Die Auswirkungen, die Russlands Angriff auf die Ukraine verursacht haben, ziehen sich bis in die Arktis hinein. Besonders die Aktivitäten des Arktisrates, der bis dahin als krisenfest schien und zurzeit noch von Russland präsidiert wird, sind seither auf Eis gelegt. Angesichts der dringenden Probleme, die den hohen Norden und seine Bewohnerinnen und Bewohner plagen, möchte aber kaum jemand, dass der Rat weiterhin pausiert. Zwar hat Norwegen, das am 11. Mai den Ratsvorsitz übernehmen wird, seine Strategie vorgestellt, welche Aspekte der Rat in den kommenden zwei Jahren ins Zentrum stellen wird. Doch dringende Fragen bleiben offen.
Mehr Schutz der arktischen Lebensräume und der darin lebenden Organismen vor Verschmutzung, Abfall, Lärm und zu starker wirtschaftlicher Ausbeutung, gleichzeitig die wirtschaftliche Entwicklung der Arktis noch nachhaltiger gestalten indem man auf bessere und «grünere» Technologien besonders bei der Schifffahrt setzen will; die indigenen Völker der Arktis und ihre Rechte noch mehr stärken, bessere Ausbildungs-, Nahrungs- und Arbeitsmöglichkeiten schaffen und das Gesundheitssystem verbessern und sie mehr in die Entscheidungsfindungen einbeziehen; all das sind Punkte, die Norwegen in seiner Strategie des Arktisrates für die nächsten zwei Jahre aufgeführt hat und auf die der Fokus gelegt werden soll. Besonders spannend dabei: mehrfach wird in dem Dokument darauf hingewiesen, wie sehr man bei der Umsetzung auf Zusammenarbeit setzen wird, egal ob es sich um Artenschutz, Schifffahrtssicherheit, Klimaschutz, die wirtschaftliche Entwicklung oder die Verbesserung der Situation arktischer Bewohner handelt.
Zusammenarbeit war schon immer eine Stärke des Arktisrates seit seiner Gründung. Denn man wusste, dass man den Herausforderungen, denen die Arktis und ihre Bewohner gegenüberstehen, nur gemeinsam begegnen konnte. «One Arctic» war das Zauberwort, das einst von Michail Gorbatschow geprägt worden war. Doch seit dem 24. Februar 2022 und Russlands Invasion in der Ukraine ist diese Zusammenarbeit auf allen Ebenen pausiert und Befürchtungen, dass der Rat «sterben» werde, wurden häufig geäussert. Aussenministerin Anniken Huitfeldt, die persönlich die Präsentation der norwegischen Strategie vornahm, liess keine Zweifel über die Wichtigkeit des Arktisrates aufkommen. «Ein Vierteljahrhundert lang war der Arktisrat von grosser diplomatischer Wichtigkeit. Und in den turbulenten Zeiten, in denen wir uns befinden, brauchen wir den Arktisrat», erklärte sie in ihrer Präsentationsrede. Und doch waren weder in der Rede, noch im Strategiepapier Hinweise zu finden, wie der Rat seine Arbeit weiterführen wird und Norwegen seine wichtigen Ziele erreichen will. Zumindest hat nun auch Russland erklärt, man erachte den Arktisrat als eine bedeutende Plattform der Zusammenarbeit. Das berichtet die norwegische News-Plattform High North News.
Aber auch die Frage nach dem Ablauf zur Übergabe des Ratsvorsitzes blieb an diesem Dienstag tatsächlich offiziell unbeantwortet. Diese Frage beschäftigt schon seit einiger Zeit die Diplomaten der Ratsländer. Russland hatte im Januar die Aussenminister eingeladen, am 11. Mai in Salekhard in der Region Yamal-Nenets die offizielle Ratsvorsitzübergabe bei einem direkten Treffen zu vollziehen, was von Norwegen und den restlichen Staaten aber umgehend abgelehnt wurde. Trotzdem liefen wohl im Hintergrund die diplomatischen Mühlen weiter und man versuchte, auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner basierend eine Lösung zu finden. Der norwegische Arktisbotschafter Morten Høglund gab gegenüber den Medien an, dass man ein Treffen durchführen werde und er daran virtuell teilnehmen werde. Er erklärte ebenfalls, dass es für Norwegen das Allerwichtigste sei, dass der Arktisrat «überleben» werde, denn er ist die wichtigste Plattform in der Arktis, wenn es darum geht, die Herausforderungen zu meistern. Die Wichtigkeit des Arktisrates sieht auch Russland, das von einem «signifikanten Kooperationsformat» spricht.
Und auch Anniken Huitfeldt hat bei ihrer Eröffnungsrede die Wichtigkeit hervorgehoben. Sie verwies auf Fridtjof Nansen, der neben vielen anderen Positionen auch Norwegens erster Botschafter in London gewesen war, und erklärte: «Nansen war kein gewöhnlicher Diplomat. Er hasste die reguläre diplomatische Arbeit und das Protokoll. Doch er sah, was wichtig war. Und wir müssen das auch tun.» Und was für Norwegen wichtig ist, ist im Strategiepapier klar ersichtlich: Die Herausforderungen, denen sich die Arktis mehr als nur die nächsten zwei Jahre gegenüber ausgesetzt sieht und die am Ende alle im hohen Norden betreffen, mit Forschung und Zusammenarbeit anzugehen. «In diesem Sinne bereiten wir uns jetzt darauf vor, die Leitung zu übernehmen. Es wird die wichtigste Sache in der Geschichte des Rates sein,“ erklärte Anniken Huitfeldt abschliessend. Das bedeutet, dass eine geregelte Übergabe sehr wahrscheinlich ist.
Doch was danach kommt, bleibt offiziell weiterhin so dunkel wie die Polarnacht.
Dr. Michael Wenger, PolarJournal