Halbzeit auf Svalbard – Weniger Gäste als erwartet, aber nicht weniger Probleme | Polarjournal
Endlich wieder eine normale Sommersaison 2023 auf Svalbard? Das Halbzeitfazit hört sich eher durchzogen an. (Foto: Michael Wenger)

Seit im Mai die arktische Sommersaison auf Svalbard begonnen hat, sind zahlreiche Schiffe und ihre Passagiere auf und um den Archipel unterwegs gewesen. Und was beim Sport üblich ist, kann auch beim Tourismus angewendet werden, nämlich eine Halbzeitanalyse. Und die fällt eher gemischt aus.

Um es gleich vorneweg zu nehmen: Der Artikel soll weder eine Abrechnung mit dem arktischen Tourismus und seiner Vertreter sein, noch ein Loblied auf die Sache, bestimmte Unternehmen, Organisationen oder Individuen, sein Vielmehr soll er einen nüchternen und sachlichen Blick auf den bisherigen Verlauf der Sommersaison auf dem von Norwegen verwalteten Archipel bieten, jenseits der Polemik über Sinn und Unsinn von arktischem Tourismus. Darüber wurde schon im Vorfeld der Saison teilweise derart hitzig debattiert, dass man es leicht als Grund für die hohen Temperaturen auf Svalbard zu Beginn der Saison angeben könnte.

Denn im eigentlich hocharktischen Archipel lagen die Temperaturen im Mai und Juni an jeweils 19 Tagen über den monatlichen Durchschnittswerten. Auf den sozialen Medien wurden regelmässig Bilder gepostet, die dank strahlendem Sonnenschein und viel Vegetation ebenso aus irgendeinem Gebiet der Alpen hätten stammen können, wären da nicht Eisschollen, grosse Gletscherkanten und arktische Tiere noch mitfotografiert worden. Besonders häufig tauchten Walrosse, Rentiere, und Polarfüchse auf. Aber auch Wale und natürlich Eisbären machten ebenfalls ihre Runden durch Facebook, Instagram und die anderen Kanäle.

Diese Bilder und die Aussagen und Berichte von Passagieren, Guides und Schiffsbesatzungen lassen darauf schliessen, dass in Sachen Erlebnisse der bisherige Verlauf der Sommersaison die Erwartungen erfüllt oder vielleicht sogar übertroffen hat. Das trotz anfänglicher Bedenken verschiedenster Tourismusvertreter, die zu strenge Regulierungsmassnahmen von Seiten der Behörden moniert hatten, beispielsweise die Sperrung bestimmter Regionen oder die 500 Meter Mindestabstand zu Eisbären und ein Sicherheitsabstand von 300 Metern zu Vogelkolonien.

Leider hielten sich aber nicht alle Schiffe an die Vorgaben, die von den Behörden als Schutzmassnahmen vor Störungen ergriffen worden sind. Gemäss einem Bericht der Sysselmestern von Anfang Juli werden mehrere Fälle von unbefugtem Betreten, Nichteinhaltung von Mindestabständen und das Eindringen in Schutzreservate untersucht. Gegenüber der Lokalzeitung Svalbardposten gab der verantwortliche Polizeichef Sten Olav Breidli an: «Wir sprechen von verschiedenen Schiffstypen, die für Kreuzfahrten, von der Tourismusindustrie und für Forschung genutzt werden.» Weiter erklärte er, dass bei einigen Schiffen mehrere Vergehen untersucht werden. Die Berichte über die Vergehen stammten nach seinen Angaben sowohl aus Beobachtungen der lokalen Bevölkerung wie auch von eigenen Beobachtungen der Behörden.

Obwohl die Karte von Marinetraffic.com (links) zahlreiche Schiffe rund um Svalbard zeigt, sind die Zahlen der Gäste niedriger als erwartet. (Grafik: Marine Traffic)

Die Vorfälle, sollten sie sich als tatsächliche Verletzungen der Gesetze erweisen, würden den Befürwortern von schärferen Regulierungen zum Schutz der Natur nur noch weitere Argumente liefern. Schon vor Beginn der Saison war darüber stark diskutiert worden. Eines der Hauptargumente der Befürworter waren die steigenden Zahlen von Schiffspassagieren. Vor Beginn der Saison kursierten Zahlen von bis zu 75’000 Schiffspassagieren für diese Saison. Dies sorgte für Aufregung bei den Behörden und auch gewissen Dienstleistern wie beispielsweise dem Krankenhaus in Longyearbyen. Doch bei Halbzeit der Saison zeigt sich, dass diese Zahl zu hoch gegriffen gewesen ist. Das Anfang des Jahres gegründete Svalbard Cruise Forum und dessen Leiterin Eva Britt Kornfeldt gaben gegenüber Medien an, dass man schon zu Beginn der Saison eher mit 67’000 Passagieren gerechnet habe, was aber auch nicht erreicht werden würde. Ihren Angaben zufolge sind die Fahrten im Durchschnitt weniger als 80 Prozent ausgelastet.

Dies ist umso überraschender, betrachtet man die Antarktissaison 2022/23, die mit über 105’000 Passagieren für einen neuen Höchststand (und viel Kritik) gesorgt hatte. Als Gründe für die schlechte Auslastung machen Expertinnen und Experten der Reisebranche eine Vielzahl von Faktoren aus. Dazu zählt auch ein Überangebot durch die steigende Zahl von Betreibern und Schiffen, die sich ein Stück des Polarkreuzfahrtenkuchens sichern wollen. Andererseits meldeten Reisebüros und Agenturen ein gesteigertes Interesse an Kreuzfahrten und Expeditionsreisen.

Auf Svalbard teilen sich diese beiden Branchen zu etwas 60:35 die Passagierzahlen, der Rest sind kleinere Jachten. Das Svalbard Cruise Forum hatte zu Beginn von rund 41’000 Kreuzfahrtpassagieren und 26’000 Expeditionsreisenden gesprochen.

Obwohl weniger Passagiere bisher nach Longyearbyen gekommen sind, als angenommen, haben sich die Bedenken bewahrheitet, die von Vertretern der Gesundheitsbranche in Longyearbyen schon im Frühjahr geäussert wurden. «Wir bemerken keinen geringeren Druck auf das Krankenhaus», erklärt die Leiterin der Gesundheitsabteilung bei den Sysselmesteren, Kristin Furu Grøtting Die Leitung dort spricht von einer Krise durch zu viele Menschen, die gesundheitliche Probleme mitbringen. «Viele der Patienten von den Schiffen sind sehr alt und haben eine erstaunliche Anzahl von Vorerkrankungen. Wenn sie also erst einmal krank werden, dann geht es ihnen sehr schlecht», erklärt Chefarzt Ole Tveiten in einem Interview gegenüber Svalbardposten.

Kristin Furu Grøtting meint weiter, dass sich viele der Passagiere, aber auch der Schiffsärzte und Betreiber nicht der besonderen Lage des Krankenhauses bewusst sind. Die Situation habe sich dank der Zusammenarbeit mit der AECO (Association of Arctic Expedition Cruise Operators) und dem Svalbard Cruise Forum etwas gebessert. Doch langfristig sehe man die Limitierung auf 750 Passagiere pro Schiff als bessere Lösung, sind beide überzeugt.

Die Analyse der ersten Halbezeit zeigt, dass Svalbard im Licht der Mitternachtssonne immer noch dank seiner Naturschätze (und dem gegenwärtigen Wetter) glänzen und überzeugen kann. Die Probleme aber, die bereits jetzt an den Tag getreten sind, werden wahrscheinlich auch in der zweiten Halbzeit nicht verschwinden und die Akteure noch lange nach der Saison beschäftigen.

Dr. Michael Wenger, PolarJournal

Beitragsbild: Webcam Port Longyearbyen

Mehr zum Thema

Print Friendly, PDF & Email
error: Content is protected !!
Share This