Das arktische Meereis könnte wieder schneller schmelzen | Polarjournal
Die Meereisausdehnung in der Arktis ist immer zum Ende des Sommers im September am niedrigsten. Die Grafik zeigt die Entwicklung der Minimalausdehnung von 1979 bis 2022. Grafik: NASA/Goddard Space Flight Center Scientific Visualization Studio

Ohne die derzeitige positive Phase der Arktischen Dipolanomalie wäre der Meereisverlust in der Arktis seit dem Jahr 2007 noch deutlich größer gewesen, sagt eine neue in Science veröffentlichte Studie. Nun steht offenbar der Übergang in die negative Phase bevor mit einer stärkeren «Atlantifizierung» des Arktischen Ozeans und beschleunigtem Meereisrückgang. 

Seit dem Ende der 1970er Jahre gibt es verlässliche kontinuierliche Satellitendaten zur Ausdehnung des arktischen Meereises und seitdem ist ein Abwärtstrend in der Eisbedeckung zu beobachten: Die minimale Meereisfläche im Sommer ist von damals rund 7 Millionen Quadratkilometern auf heute um die 4 Millionen Quadratkilometer geschrumpft. Doch seit dem im Jahr 2007 beobachteten Rekordminimum von 4,17 Millionen Quadratkilometern ist dieser Trend, abgesehen von einem weiteren Rekordminimum im Jahr 2012 mit 3,41 Millionen Quadratkilometern, quasi zum Stillstand gekommen.

Ein internationales Forschungsteam unter der Leitung der University of Alaska Fairbanks erklärt in seiner neuen Studie, weshalb sich der Trend des Meereisverlusts im Arktischen Ozean in den letzten Jahren nicht weiter fortgesetzt hat. Die Forschenden gehen anhand ihrer Ergebnisse davon aus, dass es wieder zu einem beschleunigten Rückgang des Meereises kommen wird. Die Ursache dafür ist der sogenannte Arktische Dipol, ein Phänomen in der Atmosphäre, das sich in einem etwa 15-jährigen Zyklus umkehrt. 

Die arktische Umwelt reagiert in vielfältiger Weise auf den Arktischen Dipol und die Studie trägt dazu bei, die «Atlantifizierung», den Einfluss des Nordatlantikwassers auf das Klima im Arktischen Ozean, zu verstehen.

Die Probennahme für die aktuelle Studie erfolgte unter anderem während einer Expedition mit dem Forschungsschiff «Akademik Tryoshnikov» im Jahr 2021. Foto: Igor Polyakov

Gegenwärtig ist der Arktische Dipol dem Forschungsteam zufolge seit 2007 in seiner positiven Phase. Das heißt, das sich über der kanadischen Arktis ein Hochdruckgebiet mit im Uhrzeigersinn wehenden Winden befindet und über der sibirischen Arktis ein Tiefdruckgebiet mit Winden, die gegen den Uhrzeigersinn wehen.

Dieses Windmuster ist der Antrieb für die Ozeanströmungen in den oberen Wasserschichten, was sich im gesamten Jahresverlauf auf die regionalen Lufttemperaturen, den Wärmeaustausch zwischen Atmosphäre, Eis und Ozean, die Meereisdrift und Meereisexport sowie auf die Ökologie auswirkt.

Je nachdem in welcher Phase sich der Arktische Dipol befindet, ändern sich auch die Strömungsverhältnisse. Die Forschenden betonen daher in ihrer Studie, dass der «Wasseraustausch zwischen den nordischen Meeren und dem Arktischen Ozean von entscheidender Bedeutung für den Zustand des arktischen Klimasystems ist».

Das Team analysierte die Reaktionen des Ozeans auf das seit 2007 herrschende Windmuster und stellte fest, dass die Strömung vom Nordatlantik in den Arktischen Ozean durch die Framstraße östlich von Grönland abnimmt, während die warme Strömung vom Atlantik in die Barentssee nördlich von Norwegen und Westrussland zunimmt. Dies führte zu einer stärkeren Erwärmung der Barentssee zwischen 2007 und 2021. Die Autorinnen und Autoren bezeichnen diese sich abwechselnden Veränderungen in der Framstraße und in der Barentssee als «Schaltmechanismus», der durch die Arktischen Dipolverhältnisse verursacht wird.

Die «Akademik Tryoshnikov» im Nansen und Amundsen Becken im Arktischen Ozean. Eine weitere Forschungsexpedition an Bord des U.S. Coast Guard Eisbrechers «Healy» startete im August 2023 in dieselbe Region. Foto: Igor Polyakov

Als Ursache für den verlangsamten Meereisverlust in den Jahren zwischen 2007 und 2021 sehen die Forschenden das sibirische Tiefdruckgebiet, dessen Winde in der gegenwärtig positiven Phase des Arktischen Dipols Süßwasser aus den sibirischen Flüssen in den kanadischen Sektor des Arktischen Ozeans treiben. Dadurch nahm die Dicke der oberflächlichen Süßwasserschicht zu, die zu mächtig und zu stabil wurde, um sich mit dem schweren Salzwasser darunter zu vermischen. Das wärmere Salzwasser kam dank der Süßwasserschicht nicht mit dem Meereis in Kontakt, was andernfalls zum Schmelzen des Eises von unten geführt hätte. Das in Richtung Westen strömende Süßwasser trug somit dazu bei, den Gesamtverlust des arktischen Meereises im Vergleich zu dem Zeitraum 1992 bis 2006 zu verlangsamen.

Neben den Auswirkungen auf die Meereisausdehnung gibt es auch vielfältige ökologische Effekte der physikalischen Veränderungen. Zum Beispiel beschreibt das Autorenteam, dass die arktische Vegetation ausgesprochen unterschiedlich auf die beiden Phasen des Arktischen Dipols reagiert. Während der negativen Phase zwischen 1992 und 2006 stieg die photosynthetische Produktivität und die Vegetation nahm an Biomasse zu. Hingegen verlor sie in der aktuellen positiven Phase an Biomasse.

Darüberhinaus hat der Schaltmechanismus «tiefgreifende» Auswirkungen auf das Leben im Ozean. Zum Beispiel können die Bedingungen für subarktische boreale Arten im östlichen Eurasischen Becken besser sein als in dessen westlichem Teil, was aktuelle Beobachtungen der Studie zufolge bestätigen.

Das Autorenteam sieht Anzeichen für eine Umkehr des Arktischen Dipols, die wie auch im Jahr 2007 abrupt sein kann. «Wir sind über den Höhepunkt des derzeit positiven arktischen Dipolregimes hinaus, und es könnte sich jederzeit wieder umkehren», sagte Igor Polyakov, Professor am College of Natural Science and Mathematics der University of Alaska Fairbanks, in einer Pressemeldung. «Dies könnte erhebliche klimatologische Auswirkungen haben, einschließlich eines möglicherweise schnelleren Verlusts des Meereises im gesamten arktischen und subarktischen Klimasystem.» 

Julia Hager, PolarJournal

Link zur Studie: Igor V. Polyakov, Randi B. Ingvaldsen, Andrey V. Pnyushkov et al. Fluctuating Atlantic inflows modulate Arctic atlantification. Science, 2023; 381 (6661): 972 DOI: 10.1126/science.adh5158

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