Anne Choquet, Juristin für Polarrecht und Anhängerin wissenschaftlicher Ansätze, die mehrere Disziplinen miteinander verbinden, arbeitet an einem neuen Forschungsprojekt an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft, Bildung und Unternehmertum.
Bevor wir über den Lehrstuhl sprechen, können Sie uns ein wenig über Ihren Werdegang erzählen und darüber, was Sie dazu gebracht hat, sich mit den Polen zu beschäftigen?
Sie werden es mir vielleicht nicht glauben, aber alles begann im Weltraum! Ich habe meine Masterarbeit über das gemeinsame Erbe der Menschheit geschrieben und dabei den Rechtsstatus des Mondes und anderer Himmelskörper mit dem der Tiefsee verglichen. Dieser Status wird oft für die Antarktis angeführt, und so kam ich zu den Polarregionen. Meine Doktorarbeit in Rechtswissenschaften habe ich über den Umweltschutz in der Antarktis geschrieben.
Im Jahr 2001 nahm ich zum ersten Mal am Konsultativtreffen des Antarktisvertrags teil. Bei dieser jährlichen Veranstaltung treffen sich die Staaten, die an den Vertrag gebunden sind. Auf den Treffen der Staaten, den sogenannten Konsultativparteien, werden die Rechtstexte für die Antarktis zwischen den stimmberechtigten Ländern verhandelt. Seitdem nehme ich als Teil der französischen Delegation regelmäßig an den Verhandlungen teil. Ich bin auch Mitglied des Comité National Français des Recherches Arctiques et Antarctiques (CNFRAA, Französisches Nationalkomitee für Arktis- und Antarktisforschung) dessen Präsidentin ich seit 2022 sein darf.
Diese Vereinigung von Polarforschern und -forscherinnen ist einzigartig mit ihrem multidisziplinären Ansatz. Wir sind Biologen, Physiker, Glaziologen, Juristen, Anthropologen… aus der Arktis und der Antarktis, alle Generationen, 180 Mitglieder. Es ist ein schöner Ort, um die Projekte, Anliegen und Bedürfnisse der Wissenschaftler zu verstehen, und man merkt, wie wichtig es ist, sich zwischen den Disziplinen auszutauschen.
Gerade jetzt, so scheint es, legen Sie einen Gang zu und starten mit dem Lehrstuhl „Polare Herausforderungen“ ein umfassenderes Kooperationsprojekt über die Polarwelten. Worum geht es dabei?
Es ist der erste Lehrstuhl zu diesem Thema und das gewählte Format ist in den Geistes- und Sozialwissenschaften sehr ungewöhnlich. Er steht nicht in Konkurrenz zu Fachbereichen oder anderen Laboren, sondern ist eine Ergänzung.
Man muss sie als Forschungsplattform sehen, als Treffpunkt zwischen der Universität und der sozioökonomischen Welt. Normalerweise gibt es Partnerschaften zwischen Unternehmen und akademischen Akteuren, aber für uns war es unerlässlich, auch Institutionen und Verbände einzubeziehen. Mit dem zusätzlichen Anliegen, die Öffentlichkeit zu schulen und zu informieren.
Auch wenn der Lehrstuhl derzeit nicht offiziell ins Leben gerufen wird, hat er in der Praxis begonnen. Neben der klassischen Forschung organisieren wir mit Workshops und Kolloquien Zeit für den Austausch und besondere Momente. So haben wir zum Beispiel eine Studie über den Empfang von Wissenschaftlern an Bord von Polar-Kreuzfahrtschiffen initiiert.
Wir haben Forschungsschwerpunkte rund um die Friedenssicherung, den Umweltschutz und die Sicherheit der menschlichen Gesellschaften mit einem maritimen Ansatz organisiert. Wir bleiben fokussiert auf das verantwortungsvolle Verhalten der Akteure, die Polarnavigation und den Schutz der Räume sowie die nachhaltige Bewirtschaftung der Ressourcen.
Die Schwerpunkte sind breit genug angelegt, um auf aktuelle Ereignisse zu reagieren. Zum Beispiel hat uns diesen Sommer das in Seenot geratene Schiff zum Nachdenken darüber angeregt, wie wir das Risiko von Meeresverschmutzungen begrenzen können.
Der Lehrstuhl dient aber auch dazu, auf die Anliegen der Akteure einzugehen. Etwa denen, die neue Ideen und Verhaltensweisen testen wollen, z. B. Schiffe, die ihren Antrieb ändern wollen. Diese Überlegungen können sich auch auf andere Regionen auswirken. Die Polarregionen stehen an vorderster Front der Veränderungen. Ein besseres Verständnis der Risiken, die durch die Entwicklung und die Vielfalt der menschlichen Aktivitäten in diesen Regionen entstehen, ist unerlässlich.
Die Partner, die sich für den Lehrstuhl entscheiden, haben einen gemeinnützigen Ansatz, es handelt sich nicht um eine Beraterorganisation, der Ausgangspunkt ist Forschung und Ausbildung.
Eine Art Think Tank?
Eine Denkfabrik ja, aber kein klassischer Think Tank mit Experten und Fachleuten, sondern ein Team von Forschern und das nicht auf einen Auftrag reagiert. Man geht von den Überlegungen der Forscher und der Studieningenieure aus. Der Ansatz ist langfristig angelegt, vier Jahre, das wird es ermöglichen, auf Ausschreibungen für wissenschaftliche Projekte zu reagieren.
Der Ausgangspunkt dieses Lehrstuhls sind gesellschaftliche Fragen, auf die die Forschung mit neuen Erkenntnissen antworten kann, indem sie Wissen und Kompetenzen miteinander verknüpft.
Nehmen wir die Auswirkungen von Touristen auf eine Region: Als Jurist kann ich das nicht beantworten, aber sobald man mir sagt, dass es eine dauerhafte oder vorübergehende Auswirkung gibt, dann kann man die Dinge verbessern, indem man zum Beispiel Managementmaßnahmen ergreift. Man kann an den Genehmigungen und Erklärungen von Aktivitäten arbeiten. Das gilt für die Fischerei, den Tourismus und die Wissenschaft.
Man darf nicht vergessen, dass in der Arktis Menschen leben und man nicht einfach in einem eroberten Gebiet an Land gehen kann. Es ist daher unerlässlich, die Einheimischen einzubeziehen, es gibt eine ganze Reihe von Überlegungen, die man anstellen muss, um die Ethik zu verbessern.
Um diese komplexen Fragen zu beantworten, muss man sich also mit mehreren Personen zusammensetzen. Wer sind die Akteure an diesem Lehrstuhl konkret?
Die Polarforschung ist de facto auf Kooperation angewiesen, das ist ihre Philosophie, mit dem Wunsch zu teilen. Der Lehrstuhl ist international offen und gleichzeitig fest in Brest verankert. Die Tatsache, dass ich in dieser Stadt bin, hat mir die Bedeutung der Region bewusst gemacht, es gibt einen wichtigen polaren Nährboden, auf den man sich stützen kann, um ehrgeizige Projekte zu entwickeln, mit dem Französischen Polarinstitut, dem SHOM, der Seepräfektur, dem Europäischen Hochschulinstitut für das Meer und mehr als 60 Polarforschern aller Disziplinen.
Der Aufbau des Lehrstuhls hat es uns ermöglicht, die polaren Akteure in Frankreich zu erfassen. Zum Beispiel Vereine wie Le Cercle Polaire, Greenlandia oder Cryosalide. Bei den Unternehmen gibt es Tourismusanbieter oder Schiffswerften wie Piriou, die Schiffe für das Südpolarmeer gebaut haben. Hinzu kommen die Unternehmen, die Satelliten konstruieren. Nicht zu vergessen sind aber auch Einzelunternehmen wie die Polarguides.
Bevor wir den Lehrstuhl einweihen, möchten wir den Kreis der Partner erweitern, und zwar insbesondere auf der Seite der Unternehmen, nicht nur der polaren Akteure. Partner, die in ihrem Geschäftsleben miteinander konkurrieren, werden am Tisch der Akteure sitzen, weil sie gemeinsame Schwierigkeiten haben. Akteure könnten Praktikanten aufnehmen, die mit dem Lehrstuhl in Verbindung stehen. Einige Partner würden sich als Förderer in Form von Finanz- oder Kompetenzspenden engagieren.
Private und öffentliche Vereinbarungen für Doktoranden oder Post-Docs könnten mit besonderen Beziehungen geschlossen werden. Zum Beispiel mit einer Versicherungsgesellschaft, die an den Risiken in diesen Regionen interessiert ist, oder mit einem Unternehmen, das Aktivitäten in diesem Bereich plant.
Die Forschungsergebnisse werden durch Lehrgänge verbreitet. So haben wir beispielsweise ein Modul zu Polarfragen für Studenten in Brest, Lorient und der École Nationale Supérieure de Techniques Avancées de Bretagne eingerichtet. Wir müssen noch über ein Universitätsdiplom und Sommerschulen nachdenken, je nach dem festgestellten Bedarf.
Wir werden uns an Fachleute, Studenten und Arbeiter wenden, die möglicherweise involviert sind. Außerdem werden wir uns mit wissenschaftlichen Informationen an die breite Öffentlichkeit wenden, denn es gibt viele Vorurteile über diese Regionen und viele Katastrophenszenarien in den Medien. Aber es gibt so viel mehr als das.
Interview von Camille Lin, PolarJournal
Für weitere Informationen folgt hier Link zur Seite des Lehrstuhls Polare Herausforderungen des Amure-Labors