Der Westantarktische Eisschild wird einer neuen Studie zufolge bis zum Ende dieses Jahrhunderts immer schneller abschmelzen und den Meeresspiegel ansteigen lassen, ganz gleich wie stark die Emissionen reduziert werden. Dennoch ist dies kein Grund, Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels aufzugeben — im Gegenteil.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des British Antarctic Survey und der Northumbria University veröffentlichten Anfang der Woche ihre neuesten Forschungsergebnisse zum Westantarktischen Eisschild (WAIS), die mehr als ernüchternd sind. In der Fachzeitschrift Nature Climate Change beschreiben sie, dass eine erhebliche Beschleunigung der Eisschmelze bis 2100 «unvermeidlich» ist und zwar unabhängig davon, wie stark und wie schnell die Treibhausgasemissionen gesenkt werden.
In Computersimulationen untersuchte das Forschungsteam das Schmelzen des WAIS, dessen Masseverlust fast ausschließlich durch das Schmelzen der Eisschelfe von unten aufgrund des sich erwärmenden Meerwassers erfolgt. Die Ergebnisse zeigen, dass sich die Amundsensee, auf der die Eisschelfe des WAIS ruhen, unter allen angewendeten Emissionsszenarien — Paris 1,5°C, Paris 2°C, RCP 4.5 und RCP 8.5 — in den nächsten Jahrzehnten «signifikant und großflächig» erwärmen wird.
Selbst wenn es gelingen sollte, das ambitionierteste Ziel des Paris-Abkommens einzuhalten — die Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5°C —, was aus heutiger Sicht sehr unwahrscheinlich ist, würde sich die Amundsensee dreimal schneller erwärmen als im 20. Jahrhundert, heißt es in der Studie. Die Simulationen ergaben zudem keinen signifikanten Unterschied zwischen den unterschiedlich ambitionierten Szenarien. Erst ab dem Jahr 2045 würden die Temperaturen der Amundsensee unter dem ungünstigsten Szenario mit sehr hohen Emissionen deutlich stärker steigen als bei den optimistischeren, um bis zu 2°C bis zum Ende des Jahrhunderts. Bei den Berechnungen berücksichtigten die Forschenden auch Klimaschwankungen wie El Niño.
Die Eisschelfe der zum WAIS gehörenden Gletscher, wie zum Beispiel die von Thwaites und Pine Island, werden den Prognosen zufolge also in jedem Fall noch schneller schmelzen. Die Gletscher des WAIS könnten sich daraufhin unumkehrbar zurückziehen und den globalen mittleren Meeresspiegel über mehrere Jahrhunderte um 5,3 Meter steigen lassen. Schon jetzt wird beobachtet, dass die Stützleistung der Eisschelfe für die oberhalb liegenden Gletscher abnimmt und diese schneller in Richtung Ozean fließen.
Weltweit leben mehr als zwei Milliarden Menschen in Küstennähe. Dem Forschungsteam war es daher wichtig, eine breite Palette von Szenarien zu untersuchen, um politischen Entscheidungsträgern zu ermöglichen, im Voraus zu planen und sich besser an bevorstehende Veränderungen, insbesondere in Küstenregionen, anzupassen.
Der in der Studie untersuchte Zeitraum bis über das Jahr 2100 hinaus ist nur schwer greifbar, aber die Autoren betonen, dass durch die anhaltende Erwärmung der Ozeane weitere Auswirkungen des Meeresspiegelanstiegs auf Zeitskalen ausgelöst werden, die «unmittelbar politisch relevant» sind. Zudem ist nicht sicher, inwieweit die Erwärmung der Atmosphäre in Zukunft eine Rolle für das WAIS spielen wird.
«Es sieht so aus, als hätten wir die Kontrolle über das Abschmelzen des Westantarktischen Eisschildes verloren. Wenn wir ihn in seinem historischen Zustand erhalten wollten, hätten wir schon vor Jahrzehnten etwas gegen den Klimawandel unternehmen müssen. Das Gute daran ist, dass die Welt mehr Zeit haben wird, sich an den bevorstehenden Anstieg des Meeresspiegels anzupassen, wenn sie diese Situation rechtzeitig erkennt. Wenn man eine Küstenregion aufgeben oder grundlegend umgestalten muss, macht eine Vorlaufzeit von 50 Jahren einen großen Unterschied», sagt Dr. Kaitlin Naughten, Forscherin des British Antarctic Survey und Hauptautorin der Studie.
Ob der Westantarktische Eisschild seinen Kipppunkt bereits überschritten hat, spricht die Studie nicht an. Olaf Eisen, Professor für Glaziologie am Alfred-Wegener-Institut, der nicht an dieser Studie mitgewirkt hat, sagte in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur, dass man momentan nicht weiß, ob der Kipppunkt bereits erreicht ist oder ob es erst in zehn oder 50 Jahren soweit ist. Es bestehe aber die Hoffnung, dass er noch nicht erreicht ist.
Auch wenn die Ergebnisse der Studie ernüchternd sind, ist jetzt nicht die Zeit, den Kopf in den Sand zu stecken. Weiterhin bleibt es unerlässlich, Klimaschutzmaßnahmen weiter voranzutreiben und die Auswirkungen des Klimawandels zu begrenzen, so das Autorenteam.
«Wir dürfen nicht aufhören, daran zu arbeiten, unsere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu verringern. Was wir jetzt tun, wird dazu beitragen, den Anstieg des Meeresspiegels langfristig zu verlangsamen. Je langsamer sich der Meeresspiegel verändert, desto leichter können sich Regierungen und Gesellschaft darauf einstellen, auch wenn er nicht aufgehalten werden kann», so Dr. Naughten.
Der WAIS ist nur eine der Komponenten, die den Meeresspiegel beeinflusst, und die Anpassung an den Anstieg des Meeresspiegels sollte jetzt prioritär behandelt werden. Das Team schließt seine Studie mit: «Die Begrenzung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kosten des Meeresspiegelanstiegs erfordert eine Kombination aus Schadensbegrenzung, Anpassung und Glück.»
Julia Hager, PolarJournal
Beitragsbild: David Vaughan