Zu den wichtigsten arktischen Bewohnern gehört sicherlich die Ringelrobbe. Die kleine Robbenart ist einerseits die bevorzugte Beute von Eisbären, aber bei den Inuit ist sie eine wichtige Nahrungsquelle. Ein internationales Forschungsteam ist nun Berichten von Fischern in Grönlands Eisfjord bei Ilulissat nachgegangen, die von einer ungewöhnlichen Robbenart erzählten. Das Ergebnis der Untersuchung lieferte eine grosse Überraschung.
Grösser, schwerer, stärkere Ringfärbung am Fell, eine stärkere Standorttreue im Eisfjord von Ilulissat und wahrscheinlich eine andere Art der Osmoregulation (Umgang mit dem Salzgehalt des Meerwassers), das ist Kangiat, der neu beschriebene Typ einer Ringelrobbe. Zu diesem Schluss kommt die Forschungsarbeit eines internationalen Teams, welche die Ergebnisse Mitte Oktober in der Fachzeitschrift Molecular Ecology veröffentlicht hat.
Berichte über eine Gruppe von Ringelrobben, die anders aussehen und sich auch anders verhalten als die anderen Ringelrobben, zirkulieren schon länger und hatten die Aufmerksamkeit von Aqqalu Rosing-Asvid vom Greenland Institute of Natural Resources geweckt. Als Seniorforscher beschäftigt er sich mit den Robben rund um Grönland und darum folgte er den Angaben von Fischern, die im Eisfjord vor Ilulissat diese Robben beobachtet hatten und ihnen den Namen «Kangiat» (die aus Kangia) gegeben hatte. Gemeinsam mit Morten Tange Olsen, einem Molekularbiologen der Universität Kopenhagen und Paolo Momigliano von der Universität Vigo wurden insgesamt 24 Tiere der besonderen Robben eingefangen, vermessen, mit Sendern versehen und Proben für genetische Untersuchungen entnommen.
Diese Proben zeigten, dass die Robben sich genetisch von gewöhnlichen arktischen Ringelrobben schon vor rund 240’000 Jahren abzutrennen begannen. Die Unterschiede umfassen nicht nur das Aussehen oder die Kolorierung, sondern auch physiologische und verhaltensrelevante Aspekte. Beispielsweise fand das Team Unterschiede bei der Osmoregulation, was bedeutet, dass Kangiat-Ringelrobben an den variierenden Salzgehalt ihres Lebensraumes anders angepasst sind als ihre Verwandten in anderen Regionen. Dies erklärt das Autorenteam mit einer längeren Exposition an die süsswasserhaltigere Umgebung im Eisfjord im Laufe der Entwicklung.
Ein weiteres besonderes Merkmal zeigte sich bei der Auswertung der GPS-Daten der Sender. Bis auf einzelne Tiere blieb die Kangiat-Ringelrobbe im Eisfjord und wanderte kaum ins offene Meer hinaus. Grund dafür dürfte der Gletscher Sermeq Kujalleq sein: «Überall in der Arktis sorgen Gletscher, die ans Meer grenzen, tiefe Fjordsysteme und Polynyas für eine hohe biologische Produktivität und bieten wichtige Nahrungs- und Ruheplätze für Meeresorganismen,» schreibt das Autorenteam. Daraus schlussfolgern sie, dass die genetischen Unterschiede aus der selbstgewählten Isolation herrühren. «Sie haben es geschafft, ihre charakteristischen Merkmale zu bewahren, obwohl sie eine kleine Gruppe sind», erklärt Aqqalu Rosing-Asvid. Er schätzt, dass nur rund 3’000 Tiere die Gesamtpopulation der Kangiat-Ringelrobbe bilden. Eine kleine Zahl, wenn man davon ausgeht, dass in der ganzen Region zwischen Kanada und Westgrönland schätzungsweise 1.2 Millionen Ringelrobben leben und der Eisfjord eigentlich kein abgeschlossenes System darstellt.
Ausserdem sind die Tiere nach Angaben des Teams auch aggressiver und territorialer und sie scheinen auch ein anderes Paarungs- und Fressverhalten aufzuweisen. Das macht es schwieriger für andere Robben, sich mit Kangiat-Ringelrobben zu paaren. «Die Kangiat-Ringelrobbe hat zwar Kontakt zu anderen Ringelrobben. Dennoch behält sie ihre charakteristischen Merkmale bei und wird daher als Ökotyp bezeichnet, was bei Robben sehr selten ist,» sagt Rosing-Asvid weiter.
Wie weit die Unterschiede noch gehen und welche anderen einzigartigen Merkmale die Kangiat-Ringelrobbe noch aufweist, muss noch genauer untersucht werden. Auch wie sie mit den Veränderungen ihres Lebensraumes umgeht, ist offen. In den vergangenen 150 Jahren ist der Sermeq Kujalleq um mehr als 40 Kilometer zurückgegangen und dieser Rückgang geht weiter. Ausserdem steigt die Zahl der Schiffe, die den Eisfjord aus den verschiedensten Gründen durchqueren, praktisch jährlich an. Viele Fragen also, die noch offen sind. Eines ist für Aqqalu Rosing-Asvid klar: Ohne die lokale Bevölkerung wäre man nie auf diese einzigartige Robbe gestossen und es zeigt, dass die Arktis auch heute noch spektakuläre Entdeckungen erlaubt, wenn man das Wissen der Inuit in die Forschung miteinbezieht.
Dr. Michael Wenger, PolarJournal
Link zur Studie: Rosing-Asvid et al (2023) Mol Ecol 32 (22) An evolutionary distinct ringed seal in the Ilulissat Icefjord, doi.org/10.1111/mec.17163