Ein gut gehütetes Mysterium scheint gelöst: In der letzten Zwischeneiszeit schmolz der Westantarktische Eisschild, wie lange vermutet, offenbar vollständig ab und ließ den globalen Meeresspiegel um mehrere Meter ansteigen. Die DNA eines kleinen Oktopus lieferte einem interdisziplinären Wissenschaftsteam die entscheidenden Hinweise.
Jahrzehntelang haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach Beweisen für einen Zusammenbruch des Westantarktischen Eisschilds (WAIS, West Antarctic Ice Sheet) während der letzten Zwischeneiszeit gesucht — eine zunehmend drängende Frage. Doch die bisherigen geologischen Studien konnten eher nur Indizien liefern.
In einem neuartigen Ansatz half jetzt ein kleiner Oktopus, Pareledone turqueti, einem internationalen Team aus Molekularbiologen und Geologen, einen empirischen Beweis für das Abschmelzen des WAIS in dieser Warmzeit vor etwa 129.000 bis 116.000 Jahren zu erbringen. Damals lag die durchschnittliche Temperatur der Erde ungefähr 0,5°C über der heutigen und der Meeresspiegel war fünf bis zehn Meter höher.
Angesichts der aktuellen rasanten Erwärmung unseres Planeten wird es den Prognosen zufolge nicht mehr viele Jahrzehnte dauern, bis die globale Durchschnittstemperatur wieder dieses Niveau erreicht. Bereits heute liegt sie mindestens 1,1°C höher als in der vorindustriellen Zeit. In der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Science kommt das Team zu dem Schluss, dass der WAIS schon bald seinen Kipppunkt erreichen und unaufhaltsam abschmelzen könnte — selbst dann, wenn das Pariser Klimaziel von maximal 1,5°C Erwärmung eingehalten wird.
«Der Westantarktische Eisschild ist deshalb so wichtig, weil er derzeit immer schneller schmilzt und zum größten Verursacher des globalen Meeresspiegelanstiegs werden könnte. Ein vollständiger Zusammenbruch könnte den globalen Meeresspiegel um 3 bis 5 Meter ansteigen lassen. Wenn wir verstehen, wie der WAIS in der jüngsten Vergangenheit konfiguriert war, als die globalen Temperaturen ähnlich hoch waren wie heute, können wir die Prognosen für den künftigen Anstieg des Meeresspiegels verbessern», erklärt Prof. Jan Strugnell, leitende Forscherin an der James Cook University und Senior-Autorin der Studie, in einer Pressemitteilung des Alfred-Wegener-Instituts.
Analysen der DNA von P. turqueti aus dem Weddellmeer, der Amundsen-See und dem Rossmeer ermöglichten den Forschenden den Rückschluss, dass diese drei Randmeere damals miteinander verbunden gewesen sein mussten. Sie testeten verschiedene Szenarien anhand demographischer Modelle der Oktopuspopulationen und stellten fest, dass ein Genaustausch der zuvor isoliert lebenden Populationen mit der Zwischeneiszeit zusammenfällt. Mit einem mehr oder weniger intakten WAIS hätte diese Verbindung nicht zustandekommen können. Erst durch das Abschmelzen des Eisschildes wurden Wasserwege eröffnet und der Meeresspiegel angehoben. So konnte P. turqueti, der im Südlichen Ozean zirkumpolar vorkommt, aus allen drei Regionen über Jahrtausende hin und her wandern und sein genetisches Material austauschen, was sich bis heute in der DNA der wieder isolierten Populationen widerspiegelt.
«Die DNA enthält eine Geschichte ihrer Vergangenheit und kann dazu verwendet werden, in die Vergangenheit zurückzublicken, um festzustellen, wann sich verschiedene Tierpopulationen vermischt und genetisches Material ausgetauscht haben», sagte Sally Lau, Evolutionsgenetikerin an der James Cook University und Hauptautorin der Studie, in einer Pressemitteilung des British Antarctic Survey.
Die DNA-Proben stammen von 96 Oktopussen, die über einen Zeitraum von 33 Jahren gesammelt wurden, viele davon als Beifang von Fischereischiffen.
In einem Begleitartikel, der in derselben Ausgabe von Science erschien, stellten Andrea Dutton, Geologin an der University of Wisconsin-Madison, und Robert M. DeConto, Professor und Direktor der School of Earth & Sustainability an der University of Massachusetts Amherst, die beide nicht an der Studie beteiligt waren, weiterführende Fragen: Wie schnell würde der Meeresspiegel steigen, wenn der WAIS zusammenbricht? Würde er langsam und allmählich oder in einem oder mehreren schnellen Sprüngen ansteigen, wenn anfällige Bereiche des Eisschildes kollabieren? Außerdem heben sie hervor, dass das Verständnis darüber, wie sich der Eisverlust in der Vergangenheit vollzog, die Grundlage bildet für Prognosen über den künftigen Anstieg des Meeresspiegels. Diese seien wiederum von entscheidender Bedeutung für Küstenplaner.
«Das zeigt uns, dass wir dieses größere Bild ernst nehmen müssen», so Dutton. «Wir können die Dinge nicht einfach auf die lange Bank schieben und mit der Reduzierung der Emissionen noch fünf oder zehn Jahre warten. Wir müssen es wirklich jetzt tun.»
Julia Hager, PolarJournal