Der Oberste Gerichtshof Kanadas hat vor kurzem die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes C-92 bestätigt, das auch als Gesetz über Kinder, Jugendliche und Familien der First Nations, Inuit und Métis bekannt ist. Dieses Gesetz ermöglicht es den indigenen Gemeinschaften des Landes, ihre Kinder- und Familienschutzdienste zu betreiben, und erkennt die Forderung nach der Berücksichtigung der Herkunftskultur beim Schutz des Kindes an, genauso wie sein physisches, psychologisches und emotionales Wohlergehen und seine Sicherheit.
Am 1. Januar 2020 trat das Gesetz C-92 in Kanada offiziell in Kraft. Das neue Gesetz bestätigte die Rechte und die Zuständigkeit der indigenen Völker für Kinder- und Familiendienste und hatte außerdem Vorrang vor der Autorität der Provinzen und Territorien im Bereich des Kinderschutzes. Wenn also eine Gemeinschaft oder Organisation über ein eigenes Gesetz verfügte, galt dieses.
Die Regierung von Québec war aber nicht derselben Meinung und legte Einspruch ein. Ihr Argument: Ottawa habe seine verfassungsmäßigen Befugnisse überschritten, indem es die Zuständigkeit der Provinzen in diesem Bereich verletzt habe. Der Fall ging somit an das Berufungsgericht von Québec, das der Opposition in Québec teilweise Recht gab. Diese Entscheidung war für die Bundesregierung nicht ausreichend, sodass sie den Fall vor den Obersten Gerichtshof des Landes brachte. Dieser gab am 9. Februar sein Urteil ab und erkannte die volle Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes C-92 an.
Diese Entscheidung wurde von indigenen Organisationen im ganzen Land gefeiert, insbesondere von den Inuit der Inuit Nunangat. „Das Gericht hat unser Recht anerkannt, unsere Kinder inmitten ihrer Sprache, Kultur, Geschichte und ihres Landes aufzuziehen“, so die Inuit Tapiriit Kanatami, eine repräsentative Organisation der Inuit, in einer Pressemitteilung vom 9. Februar. „Heute hat das höchste Gericht Kanadas einstimmig unser inhärentes Recht auf Selbstverwaltung bekräftigt, einschließlich der Befugnis, für unsere Kinder und Jugendlichen zu sorgen“, sagte Natan Obed, Vorsitzender der Inuit Tapiriit Kanatami. „Aufgrund der kolonialen Systeme wurden viele unserer Familien auseinandergerissen und haben ein verheerendes generationsübergreifendes Trauma erlitten.“
Der Widerstand der Regierung von Quebec war bei den indigenen Völkern eher schlecht angekommen. Und das aus gutem Grund. Die Frage des Jugendschutzes ist ein heißes Eisen, insbesondere wenn es um die Unterbringung von Kindern geht. Eine Zählung im Jahr 2021 ergab, dass 53,8 % der Kinder unter 14 Jahren in Pflegefamilien Indigene waren. Eine Zahl, die problematisch ist, wenn man bedenkt, dass Indigene 7,7 % der Bevölkerung ausmachen. Darüber hinaus können Pflegeverhältnisse aus sozioökonomischen Gründen angeordnet werden, wie z. B. Armut, Gesundheitszustand der Eltern oder Überbelegung der Wohnung. Diese Probleme betreffen häufig die kanadischen indigenen Gemeinschaften.
Für Inuit-Kinder bedeutet eine Fremdplatzierung oft, dass sie in eine Familie oder Einrichtung im Süden gebracht werden, tausende Kilometer von zu Hause entfernt, und gleichzeitig von ihrer Familie, Gemeinschaft und Kultur abgeschnitten werden. Daher gab es Stimmen, die die Unterbringung von Kindern in Familien oder Betreuungseinrichtungen im Süden als eine andere Form der Internatsschulen betrachteten.
Mit dem Gesetz C-92 müssen die Bindungen des Kindes an seine Familie, seine Gemeinschaft oder seine Herkunftskultur ebenso aufrechterhalten werden wie sein physisches, psychologisches und emotionales Wohlergehen und seine Sicherheit.
Mirjana Binggeli, PolarJournal