Zur Feier des Tages gab es belegte Brötchen und Kaffee. Kapitän Klarius Mikkelsen setzte mit stolzgeschwellter Brust zu einer kleinen Rede an: Er lobte sein Heimatland Norwegen und pries die Heldentaten echter norwegischer Männer, insbesondere deren Pionierleistungen in der Antarktis. Leider ist nicht überliefert, ob Klarius Mikkelsen auch einen Satz gesagt hat wie «Ich nehme dieses Land für Norwegen in Besitz». Wahrscheinlich hätte das der Patriot nur zu gerne gesagt, aber er wusste wohl, dass er sich damit mächtig Ärger einhandeln würde.
Bewiesen ist allerdings, dass Caroline Mikkelsen, seine Frau, die norwegische Flagge hisste auf einem kleinen Steinhügel, den die Crew zuvor aufgeschichtet hatte, um darin die Fahnenstange zu verankern. Einer der Crew hat diesen Moment auf einer Fotografie festgehalten. Man schrieb den 20. Februar 1935, es war ein einigermassen sonniger Mittwoch mit wenig Ostwind. Das Bild zeigt Klarius und Caroline Mikkelsen und einen Teil der Mannschaft, die das Paar begleiten durfte, darunter den Schiffszahnarzt L. Sørsdal.
Tatsächlich werden sich in den kommenden Jahrzehnten Dutzende von Politikern, Forschern und Antarktisfans an diesem Dokument die Zähne ausbeissen, bildlich gesprochen. Wegen zweierlei Problemen: Das eine war politischer Natur, und das andere die Frage, ob die Gruppe auf diesem Bild auf antarktischem Festland steht oder nur auf einer vorgelagerten Insel. Im Fall des Festlands wäre Caroline Mikkelsen die allererste Frau in der Geschichte, die die Antarktis je betreten hat. In der Geschichtsschreibung der Entdeckungen ist es nämlich von entscheidender Bedeutung, ob ein Pionier neues Land nur gesehen oder auch betreten hat. Und ob das Land kontinental ist oder eine Insel. Am meisten Ruhm gibts für das Betreten des Kontinents.
Männerwelt
Allerdings nur für Männer. Antarktische Pioniertaten von Frauen werden bestenfalls als Fussnoten erwähnt. Weil die Männer ihnen einfach nicht zutrauten, dass Frauenzimmer dieselben harten Kerle sind wie sie, die sich der grausamen Wildnis des ewigen Eises trotzig widersetzen. Den Frauen gehörten Kind und Herd, den Männern die Welt. Basta.
Müssig zu erwähnen, dass bis heute mehrhundertseitige Bücher über die Geschichte der Antarktis-Eroberung erschienen sind, in denen Frauen schlicht und einfach gar nicht vorkommen.
Gewollt hätten die Frauen ja damals schon. Als Robert Falcon Scott seine Terra-Nova- Expedition (1910–1913) vorbereitete, bewarb sich die international angesehene und promovierte Paläobotanikerin Marie Stopes als Forschungsteam-Mitglied. Sie wollte versteinerte Pflanzen suchen und beweisen, dass die Antarktis einst Teil des Urkontinents Gondwana war. Aber Scott weigerte sich strikt, eine Frau an Bord zu lassen.
Geradezu spektakulär wurde die Frauenabwehr während der Vorbereitungen einer britischen Expedition, die 1937 ausgeschrieben wurde: 1300 Frauen bewarben sich um einen Posten auf dem Schiff. Genommen wurde keine. Die Expedition kam dann übrigens auch nicht zustande.
Walfänger als Pioniere
Da hatte es Caroline Mikkelsen sehr viel einfacher. Denn sie war die Frau des Kapitäns eines Walfangschiffs. Und das war eine ganz andere Welt als diejenige der Entdecker und Erforscher. Bei den Walfängern war es nämlich durchaus üblich, dass der Kapitän hin und wieder seine Frau mit auf eine Schiffstour nahm. Die Gattin reiste bequem in der komfortabel ausgestatteten Kapitänskajüte, war von jeglichen Arbeitsaufgaben entbunden und durfte den Männern bei deren blutigem Handwerk zusehen.
Die Walfänger wiederum waren bei den Pionieren nicht hoch angesehen. Aus ihrer Sicht gebührten Entdecker-Ehre und Erforscher-Ruhm den Wissenschaftlern, den hochoffiziellen Helden, nicht aber den Arbeitern auf See. Deshalb wurden Pionierleistungen der Walfänger von der «Gegenseite» oft heruntergespielt. Obwohl es ja auf der Hand liegt, dass ein Wal- oder Robbenjäger, der monate- und jahrelang in antarktischem Gewässer kreuzt, viel eher die Gelegenheit erhält, auch mal irgendwo an Land zu gehen.
Der erste Mann, der das antarktische Festland betrat? Der US-amerikanische Robbenfänger John Davis am 7. Februar 1821. Wenig überraschend: Wissenschaftler bezweifeln das. Fairerweise muss aber gesagt sein, dass das auch damit zu tun haben könnte, dass Jäger in ihren Logbüchern andere Prioritäten setzten als Entdecker.
Wenig biografische Daten
Entsprechend war denn die Frau eines Walfängers kaum der offiziellen Rede wert, und so erstaunt es nicht, dass wir heute so gut wie nichts über Caroline Mikkelsen wissen. Die Recherchen begannen beim Walfangmuseum in Sandefjord, führten zum Norwegischen Polarinstitut in Tromsø und in die Redaktion des «Aftenbladet» in Oslo, weiter zur New Zealand Antarctic Society und zur australischen Autorin Jesse Blackadder bis zur Universität Cambridge, England. Das magere Ergebnis: Caroline Mikkelsen wurde 1906 in Dänemark geboren als 13. von 16 Geschwistern. Die Ehe mit Klarius blieb kinderlos. Nach Klarius Tod 1941 heiratete sie 1944 den Gärtner Johan Mandel und übernahm dessen Namen, womit sie quasi untertauchte.
Erst als Diana Patterson (notabene eine Frau, sie war 1969 die erste weibliche Leiterin einer Antarktisstation) 1995 zur 60-Jahr-Feier des denkwürdigen Ausflugs der Mikkelsens mit einer grossangelegten Inserate-Kampagne in den norwegischen Medien nach Caroline suchte, meldete sich ihr Sohn. Frau Mandel gab daraufhin dem «Aftenbladet» ein Interview, der Journalist beschrieb die mehrfache Grossmutter als bescheiden, leise sprechend und bei klarem Verstand. Caroline erzählte in diesem Interview, dass sie auch auf See immer gut angezogen gewesen sei, weil sie gerne geschneidert habe. Dass sie von der Mannschaft verwöhnt worden sei. Und dass bei der Landung «überall Pinguine, Pinguine, Pinguine» gewesen seien. Sie habe die letzten Jahrzehnte zu ihrem Abenteuer geschwiegen aus Rücksicht auf ihren zweiten Gatten.
Caroline Mandel starb in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre in Tønsberg nahe Sandefjord, Norwegen. Wann genau, ist unbekannt.
Der Landgang
Zurück ins Jahr 1935: Gut dokumentiert ist hingegen die Reise von Kapitän Klarius Mikkelsen mit seinem Schiff «Thorshavn», einem Tanker mit 11’000 Tonnen Eigengewicht. Klarius war ein erfahrener Antarktis-Seemann und stand im Dienst des Norwegers Lars Christensen, dem Besitzer des grössten Walfang-Unternehmens weltweit. Die «Thorshavn» transportierte Lebensmittel und Ausrüstung von Kapstadt zu den vier norwegischen Walverarbeitungs-Schiffen, die in den kalten Gewässern unterwegs waren. Nachdem die Schiffe beliefert und die «Thorshavn» mit deren Wal-Öl beladen war, fuhr Mikkelsen am 18. Februar weiter auf der Suche nach einem Jagdschiff, das den Auftrag erhalten hatte, südwestlich die Packeis-Verhältnisse auszukundschaften.
Am 19. Februar vernahm die «Thorshavn»-Crew Geräusche, die den Schluss nahelegten, dass Land in der Nähe war. Einen Tag später sahen sie schnee- und eisfreie Küste im Gebiet der Vestfold Mountains und navigierten durch die Eisschollen bis 5 nautische Meilen, also etwa 9 Kilometer an diesen Abschnitt heran. Das Wetter war ideal für eine Anlandung, weshalb Klarius ein Rettungsboot klarmachen liess und mit seiner Frau und sieben Crew-Mitgliedern an Land ruderte.
Klarius notierte später in seinem Logbuch die Koordinaten und beschrieb den Strand als felsig und vegetationsfrei mit bis zu 100 Meter hohe Gipfeln, ein kleiner Bach floss von einem Süsswassersee herunter, und überall lag meterdick goldgelbe Pinguinkacke, weil Pinguine brüteten «soweit das Auge reichte».
Es kam zu besagter Ansprache mit Fahnenzeremonie, Auftritt Caroline und Foto. Unter einem zweiten Steinhaufen wurde eine Kiste mit Notfallausrüstung vergraben, falls dereinst Männer in Not hier vorbeikommen sollten. Klarius notierte dessen Koordinaten mit 68 Grad 29 Minuten Süd und 78 Grad 36 Minuten West. Er taufte die Gegend Ingrid-Christensen- Land nach dem Namen der Frau seines Arbeitgebers. Nach ein paar Stunden war der Zauber vorbei, Klarius nahm noch ein paar Steine mit an Bord. Am nächsten Tag taufte Klarius einen 235 Meter hohen Berg zu Ehren seiner Frau Mount Caroline Mikkelsen.
Die Rückreise verlief ohne Zwischenfälle. Ein Versorgungs- und Transport-Trip von Kapstadt ins Eis und retour dauerte übrigens in der Regel sechs Wochen.
Streit um die Antarktis
Zu Hause in Norwegen war Lars Christensen, der Walfangkönig, hocherfreut über das Bild mit Klarius und Caroline. Norwegische Antarktis-Freunde verkündeten lauthals der ganzen Welt, dass die erste Frau überhaupt die Antarktis betreten habe. Und dass, viel wichtiger noch, diese eine Norwegerin sei. Was wiederum den Anspruch Norwegens auf grosse Teile der Antarktis und der Walfanggebiete bekräftige.
Genau mit diesem Anspruch und dem dazu gehörenden «Beweisfoto» entfachten die nordischen Patrioten aber internationale politische Querelen. Um diese Unruhen zu verstehen, muss man etwas weiter ausholen: Spätestens mit dem Scheitern von Ernest Shackletons Quest-Expedition und dessen Tod auf Grytviken 1922 war das «goldene Zeitalter der Antarktis Forschung» beendet – die intensive Zeit des Walfangs begann, und der Südliche Kontinent war noch nicht in die heutigen Länder zugeordneten Sektoren aufgeteilt.
Patriotische Walfang-Grossunternehmer wie Lars Christensen sprangen in die Entdecker-Bresche und beauftragten Schiffskapitäne wie Klarius Mikkelsen, unterwegs neues Land zu erkunden und damit quasi provisorisch den Anspruch ihrer Nation auf die betreffende Antarktis-Region zu markieren.
Seefahrer- und Entdeckerländer stritten sich also um die Aufteilung der Antarktis in nationale Gebiete. England beanspruchte seit der Londoner Konferenz von 1926 gar die gesamte Antarktis für sich alleine, was für Seefahrer-Nationen wie Norwegen, Belgien, Frankreich oder Dänemark natürlich überhaupt nicht in Frage kam. Man einigte sich darauf, dass die Küste zwischen dem 60. und dem 86. Längengrad vorläufig niemandem gehörte. Norwegen und England hatten sich darüber hinaus verständigt, sich gegenseitig nicht in die Quere zu kommen. Der heikle Punkt an Klarius Mikkelsens Anlandung: Sie erfolgte just in diesem «neutralen» Sektor. Nun musste die norwegische Regierung das Übereinkommen mit England offiziell bestätigen, um die durch das Foto ausgelösten Querelen zu beruhigen.
Die Inselfrage
Hier könnte diese Geschichte zu Ende sein. Klarius stirbt, Caroline heiratet erneut und bleibt bis 1995 für die Forschung unauffindbar. Das Vestfold-Gebiet gehört heute zum englischen Sektor. Die Engländer haben das Ingrid-Christensen-Land und den Caroline-Mikkelsen-Berg zu Klarius Ehren bei diesen Namen belassen, der Berg trägt heute die Identifikationsnummer 117379.
Aber dann veröffentlichten die australischen Wissenschaftler F. I. Norman, J. A. E. Gibson und J. S. Burgess 1998 im englischen Magazin «Polar Record» eine zwölfseitige Abhandlung, in der sie behaupteten, dass Klarius Mikkelsen nicht auf dem Festland gelandet sei, sondern auf einer vorgelagerten Insel. Was bedeutet, dass Caroline nicht die erste Frau auf dem Kontinent Antarktis war – wir erinnern uns an die Aufteilung von Ruhm und Entdecker-Ehre. Norman, Gibson und Burgess stützen sich auf ungenaue Koordinaten-Angaben (die Sekunden fehlen), unterschiedliche Einträge in Klarius’ Tagebuch und das offizielle Logbuch inklusive ungenauer Beschreibungen. Zudem unterstellen sie indirekt, dass der Walfangmagnat Lars Christensen Mikkelsens Daten zu seinen Gunsten nicht gerade manipuliert, aber zumindest nicht ganz korrekt zu seinen patriotischen Zwecken eingesetzt habe.
Die Frage, ob die Gruppe 1935 tatsächlich auf Festland stand oder nur auf einer Insel, hat die Forscher natürlich schon vorher beschäftigt. Als 1957 ungefähr 30 Kilometer von Mikkelsens Anlandungspunkt die australische Davis-Station gegründet wurde, machten sich Australier auf den Weg, den Steinhügel zu finden, auf dem die norwegische Flagge gehisst worden war. Eine Expedition 1958 blieb erfolglos. 1960 fanden zwei Forscher tatsächlich eine norwegische Fahne, aber keiner von beiden erfasste die Koordinaten der Fundstelle. 1995 fand der australische Archäologe Martin Davies den vermeintlichen Steinhaufen, stürzte aber zwei Tage später während eines Spaziergangs in den Felsen ab und verletzte sich tödlich.
Bis zum Artikel von Norman, Gibson und Burgess 1998 war also noch kein niet- und nagelfester Nachweis zur Inselfrage erbracht, und sogar die Beweisführung der drei wurde von anderen Wissenschaftlern angezweifelt.
War die zweite die erste?
Es war dann schliesslich die australische Autorin Jesse Blackadder (notabene schon wieder eine Frau), die es ganz genau wissen wollte, 2011 in die Antarktis reiste und in den Archiven wühlte. Ihr Ergebnis: Es gibt keine absolut eindeutigen Beweise für oder gegen die Inseltheorie. Aber, so folgerte Jesse Blackadder in ihrem Buch «Chasing the Light», wenn Caroline Mikkelsen nicht die Erste gewesen wäre, dann wäre es Ingrid Christensen gewesen, die Frau des Walfangmagnaten Lars Christensen. Ingrid fuhr nämlich zusammen mit ihrem Mann zwei Jahre nach Caroline in die Antarktis, es war übrigens bereits ihre vierte Reise dorthin. Am 30. Januar 1937 betrat sie am Fuss des Scullin-Monolithen antarktisches Festland – niet- und nagelfest bewiesen.
Auf dieser Reise waren drei weitere Frauen an Bord: Sofie, die Tochter der Christensens, Lillemor Rachlew und Solveig Widerø. Lange Jahre war nicht klar, welche der vier Frauen als erste aus dem Boot stieg. Eine Neuübersetzung von Lars Christensens Tagebuch ergab aber 2012, dass Ingrid als erste das Land betrat. Und so endet diese Geschichte definitiv, diesmal mit einem, sagen wir: offenen Schluss zu Gunsten Caroline Mikkelsen.
Nachtrag
Was die erste Frau betrifft, die das antarktische Festland mit eigenen Augen gesehen hat, geht diese ebenfalls leer aus: 1835 erlitt ein Schiff vor Campbell Island Schiffbruch. Vier Jahre später wurden drei Männer und eine Frau von den beiden englischen Walfangschiffen «Eliza Scott» und «Sabrina» unter dem Kommando von John Balleny gerettet, je zwei Schiffbrüchige wurden auf die «Eliza Scott» und die «Sabrina» verteilt. Auf der Weiterfahrt kamen die beiden Schiffe bis auf Sichtweite des Festlandes heran.
Auf der Heimreise ging die «Sabrina» in einem Sturm mit Mann und Maus und Logbuch unter. Im Logbuch der «Eliza Scott» wurde die gerettete Frau nicht mit Namen erwähnt. So bleibt sie für immer unbekannt. Ironie der Geschichte: Nach Kapitän Balleny ist die auf dieser Fahrt entdeckte Balleny-Insel benannt.
Text: Christian Hug / Bilder: Norwegian Polar Institute