Der polare Rückblick greift Geschehnisse der vergangenen Woche auf, die mit Arktis und Antarktis zusammenhängen und stellt einen oder mehrere Aspekte ins Zentrum der Betrachtung. Dieses Mal richtet sich der Blick nach Südgrönland, wo Eisbären ins Zentrum einer Diskussion zwischen regionaler und nationaler Regierung gerückt sind.
Eigentlich ist alles klar: Die Eisbärenjagd in Grönland hat Tradition und wird mittels Quotenregelung für jede Kommune einzeln gesteuert. Die Quoten werden immer wieder neu festgelegt und bauen vor allem auf Informationen auf, die von den lokalen Jägern und Behörden stammen. Doch was tun, wenn eine Gemeinde sich plötzlich durch das vermehrte Auftauchen des Königs der Arktis bedroht fühlt? Genau das ist zurzeit Gegenstand einer Debatte zwischen der Bürgermeisterin der Kommune Kujalleq, Stine Egede, und dem in der Regierung zuständigen Minister für Jagd und Fischerei, Kim Kielsen.
Die Debatte wurde öffentlich, weil Bürgermeisterin Egede in einem offenen Brief an Minister Kielsen eine Erhöhung der Abschussquote von Eisbären in ihrem Gemeindebereich gefordert hat: 10 statt der bereits im März erreichten 4 Tiere sollen geschossen werden.
Mehr Bären in Südgrönland?
Die Diskussion zwischen der Kommunalregierung in Qaqortoq und der Regierung in Nuuk ist nicht neu. Als 2020 eine Eisbärin mit zwei Jungtieren über mehrere Tage immer wieder auf dem Gemeindegebiet von Qeqetarsuaqsiaat im Südwesten auftauchte und sich nicht verscheuchen liess, wollte man von Nuuk eine Sondergenehmigung zum Abschuss der Tiere. Am Ende wurden die drei Tiere von einem lokalen Jagdaufseher abgeschossen, aber ob die Genehmigung dafür am Ende vorlag, ist bis heute nicht bekannt. Auch in diesem Jahr seien bereits zwei gefährliche Situationen eingetreten in der Region.
Eigentlich waren Eisbären in Südgrönland bisher kaum ein Problem. Besonders auf der westlichen, der hauptsächlich bewohnten Seite waren die weissen Raubtiere nur sehr seltene Besucher. Gemäss Bürgermeisterin Egede seien jedoch sowohl die Zahl an Sichtungen in den bewohnten Gebieten stark angestiegen und auch das Verhalten der Eisbären sei unerschrockener geworden. «Die Zunahme der Zahlen ist so auffällig, dass das Vorkommen weiblicher Eisbären mit nicht einmal einjährigen Jungen zur Normalität geworden ist», schreibt sie im Brief an Minister Kielsen. Dass die Eisbärenpopulation in der Region zugenommen habe, werde durch die lokalen Jäger und Fischer bestätigt, heisst es im Schreiben.
Eisbären als Gefahr für die regionalen Lebensgrundlagen
Bürgermeisterin Egede rechtfertigt die Erhöhung der Abschussquote mit der neuen Gefahrensituation in einer Region. Menschen könnten nicht mehr gefahrlos ihren traditionellen Aktivitäten nachgehen. «Menschen haben jetzt Angst, in die Natur zu gehen, es ist nicht mehr attraktiv, zu campen, und es gibt andere Personen, die campen und Fische für die Winterlagerung trocknen», schreibt sie weiter. Damit würden wesentliche Aspekte des kulturellen Lebens eingeschränkt und dies in einer Zeit, in der es sowieso immer schwieriger werde, die traditionelle Lebensweise aufrecht zu erhalten.
Tatsächlich ist die Region etwas speziell im Vergleich zum restlichen Grönland. Im Südwesten der grössten Insel der Welt ist das Klima etwas milder und von der raueren Südostseite durch die zerfurchte Gebirgskette und den Eisschild abgeschirmt worden. Schon die Nordmänner, die hier ab dem 10. Jahrhundert gesiedelt hatten, sahen das Potential für Landwirtschaft als Nahrungsquelle. Natürlich wird auch gefischt und traditionell Robben und andere Tiere als Teil des Lebensunterhalts gejagt. Trotzdem: Schafe und Rinder statt Moschusochsen und Rentiere, Salat und Kartoffeln statt Beeren und andere Pflanzen sind heutzutage wesentliche Bestandteile der Ernährung und der Lebensgrundlagen. All dies sieht Stine Egede durch die immer häufigeren Begegnungen mit Eisbären in Gefahr.
Besucherinnen und Besucher der kleinen Orte wähnen sich kaum in der wilden Arktis im Angesicht von Heuballen, Schafen und Traktoren. Und genau das ist ein weiterer Punkt, der in den Überlegungen der Kommunalverwaltung eine Rolle gespielt haben dürfte (aber im Brief nicht erwähnt wird): Tourismus. Der Süden Grönlands hat sich nämlich in den letzten Jahren zu einem neuen Sammelpunkt von Kreuzfahrtschiffen diverser Grössen und Arten entwickelt, unter anderem auch dank der Tatsache, dass man kaum auf Eisbären trifft. Die meisten Mitglieder der Association of Arctic Expedition Cruise Operators AECO nehmen die für Landgänge in der Arktis aufgestellten Regeln sehr ernst und sind entsprechend ausgerüstet. Doch andere Schiffe in der Region haben weder das Wissen noch die Ausrüstung, gehen aber trotzdem an Land. Da birgt ein plötzlich auftauchender Eisbär am Ortsrand ein ziemliches Gefahrenpotential, nicht nur direkt für die Menschen. Kreuzfahrtschiffe, die über keine Ausrüstung und die Kenntnisse zum Schutz der Gäste verfügen, könnten potenziell wegbleiben und damit eine Einkommensquelle reduzieren, die erst gerade aufgrund neuer Gesetze lukrativ werden soll.
Was Nuuk sagt
Die Forderung aus dem Süden Grönlands liegt nun bei der nationalen Regierung, genauer beim zuständigen Naalakkersuisoq (Minister) für Jagd und Fischerei, Kim Kielsen. Von offizieller Seite existiert zwar noch keine Entscheidung. Doch eine ähnliche Forderung aus dem Osten von Grönland von den Jagdverwaltungen aus Tasiilaq und Ittoqqortoormiit, die gegenwärtig 25 bzw. 35 Eisbären schiessen dürfen, wurde von Kim Kielsen im April abgelehnt. Das Schreiben nennt jedoch keine Gründe für das «Nein». Die von den lokalen Jagdverwaltungen geforderten Erhöhungen lagen bei 15 zusätzlichen Bären für Tasiilaq und einer nicht genannten Zahl für das am Rand des Nationalparks liegende Ittoqqortoormiit. Diese Entscheidung ist umso bemerkenswerter, weil in der seit 2023 bestehenden neuen Politik zum Umgang mit Eisbären steht, dass die Erfahrungen von lokalen Vertretern bei der Erstellung von Quoten stärker miteinbezogen werden sollen.
Diese neue Politik bringt auch noch andere Aspekte: Einerseits stehen die Tiere im Südosten von Grönland dank ihrer einzigartigen Genetik unter besonderem Schutz. Andererseits hat die Regierung einen erleichterten Umgang mit Eisbären, die in Siedlungen eindringen, verabschiedet. Dadurch könnten lizenzierte Jäger ein Tier auch ohne Bewilligung abschiessen, wenn eine Bedrohungslage vorliegt. Das erschossene Tier wird dann entweder von der diesjährigen Quote abgezogen oder von derjenigen im Jahr darauf.
Für die Regierung dürfte also die Forderung aus Kujalleq zu einem Seiltanz auf dem Rücken der Eisbären werden.
Dr. Michael Wenger, Polar Journal AG