Der polare Rückblick – Alaska, arktische Region der Gegensätze | Polarjournal
Sinnbildlich für den arktischen Anteil von Alaska steht der grosse Bär (aka Grosse Wagen), das Sternbild der Arktis, und der Polarstern (oben rechts), in der Flagge des Staates. Bild: Wiki Commons

Der polare Rückblick greift Geschehnisse der vergangenen Woche auf, die mit Arktis und Antarktis zusammenhängen und stellt einen oder mehrere Aspekte ins Zentrum der Betrachtung. Dieses Mal wirft Chefredaktor Dr. Michael Wenger einen persönlichen Blick auf Alaska nach einer dreiwöchigen Reise durch den grössten US-Staat und findet, dass der kleinste Teil der Arktis einige Gegensätze darstellt, aber trotzdem begeistert.

Dieser Artikel stellt einen persönlichen Kommentar des Chefredaktors von Polar Journal AG dar. Sowohl die Wortwahl wie auch der Inhalt dieses polaren Rückblicks spiegelt nur die Meinung des Schreibenden wider und entspricht nicht automatisch der Meinung von Polar Journal AG als Institution.

Alaska ist eine arktische Region, die ich in den vergangenen Jahren etwas vernachlässigt habe und vielleicht auch als zu «klein» im grossen arktischen Bild betrachtet habe. Dabei ist er alles andere als klein. Mit seinen über 1.7 Millionen Quadratkilometer Fläche ist er der grösste der fünfzig US-Bundesstaaten und schlägt seine Konkurrenten Texas, Kalifornien und Montana um Längen. Mitten aus dem Land ragt, weitum sichtbar auch die höchste Erhebung auf dem nordamerikanischen Kontinent, der Mount Denali mit seinen 6’190 Metern. Es ist auch der Staat mit der längsten Küstenlinie der USA. Die flächenmässig vier grössten Städte der USA liegen ebenfalls in Alaska und der Staat ist auch die Heimat des grössten Nationalparks der USA, der Wrangell-St.Elias-Nationalpark.

Gegensatz Natur- und Umweltschutz – wirtschaftliche Entwicklung

Ausserdem liegt hier auch der grösste arktische Nationalpark der USA und gleichzeitig eines der grössten und reichsten Öl- und Gasvorkommen der USA, das North Slope – Gebiet ganz im Norden des Staates. Von hier startet die kapazitätstechnisch grösste und längste Pipeline der USA, die Trans-Alaska-Pipeline, die über rund 1’300 Kilometer von Nord nach Süd pro Tag über 340 Millionen Liter Erdöl transportiert. Dabei durchquert die Anlage Bergketten, Erdbebengebiete, Permafrostböden und unzählige Flüsse und Bäche. Viele Gebiete sind abgesehen von der Pipeline und einigen Zufahrtstrassen komplett unberührt und gelten als enorm wichtige Gebiete für Naturschutz und für die indigenen Völker von Alaska. Das sorgt für viele Reibungspunkte und Kritik.

Einerseits ist das Megabauwerk von grösster Bedeutung für die alaskische und US-amerikanische Wirtschaft. Andererseits ist es ein stetiger Kritik- und Streitpunkt zwischen Umwelt- und indigenen Vertretungsverbänden und den Regierungen in Juneau und Washington DC. Damit steht die Röhre meiner Meinung nach als Sinnbild der Gegensätze, die sich wie ein roter Faden durch dem US-amerikanischen Umgang mit der Arktis ziehen.

Während der dreiwöchigen Tour durch den Süden und den zentralen Teil von Alaska, stiess ich immer wieder auf Punkte, die für mich solche Gegensätze zeigten. Da waren auf der einen Seite die atemberaubende Natur (die zu Beginn des Herbstes farbenfroher denn je leuchtete), geprägt von Gletschern und dem Kordilleren-Eisschild, der weite Teile Alaskas während der letzten Eiszeit bedeckt hatte. Auf diese Natur und die vielfältige Pflanzen- und vor allem Tierwelt, die von Pikas bis zu Elchen und Bären (egal, ob Eis-, Grizzly- oder Schwarzbären) an Land und Fisch- und Meeressäuger-reichen Gewässern reicht, sind die Menschen in Alaska enorm stolz und verbringen sehr viel Zeit mit Outdoor-Aktivitäten wie Wandern, Fischen und Zelten. Gleichzeitig trifft man kaum jemanden, der nicht mit einem riesigen Geländewagen oder Pickup unterwegs ist, der das Benzin gleich fassweise schluckt; auf tausende von Tonnen Schrott und Müll, der einfach entlang der Highways und auf den Strassen und Wegen liegt und vor sich hin rostet und verrottet; auf riesige Tourismusinfrastrukturen, die zahlungswillige Gäste bis in die hintersten Bereiche der natürlichen Schönheit bringen und fast alle (un)-möglichen Wünsche erfüllen.

Gegensatz Geschichte – aktuelle Politik

Ein weiterer solcher Gegensatz bildete der Besuch der kleinen Ortschaft North Pole südöstlich von Fairbanks im zentralen Teil des Staates. Hier wird Weihnachten in all seiner farbenfrohen Pracht das ganze Jahr über gefeiert und lockt hunderttausende von Menschen jährlich an. Man wird fast erschlagen von Lebkuchenduft, Weihnachtsbaumschmuck, Rentieren und Weihnachtsmannfiguren, die einem immer wieder «Friede auf Erden» und «Gesegnete Weihnachten» wünschen. Währenddessen fliegen im Minutentakt über der Ortschaft F-35-Kampfjets und andere Militärflugzeuge über die Köpfe der Menschen und trainieren Abfang- und Angriffsmethoden gegen einen bislang nur in den Strategiepapieren des US-Verteidigungsministeriums genannten Gegner. In den Gesprächen mit Einheimischen zeigt sich, dass man sich der Bedrohungslage zwar bewusst ist, doch man ist auch realistisch. Die Erfahrungen der Japaner, die im 2. Weltkrieg einige Inseln der Aleuten besetzt und sich dabei logistisch zu weit herausgelehnt hatten, zeigen, dass Alaska zu weit weg ist von den aktuelleren Gegnern. «Putin dürfte sich in den Hintern beissen, dass wir unser Land 1867 für lächerliche 2 Millionen US-Dollar gekauft haben», erklärt ein Busfahrer in Anchorage während einer Tour. «Jetzt sind wir hier und geniessen unser Land.»

Überhaupt hatte ich das Gefühl, dass Alaskas Umgang mit Russland ambivalenter ist. Einerseits ist man sich der gegenwärtigen geopolitischen Situation mit dem aktuellen Russland bewusst. Trotzdem ist Russland in Alaska allgegenwärtig aufgrund der Geschichte des Staates. Denn lange war die ganze Region Teil des russischen Zarenreiches und wäre es wahrscheinlich auch geblieben, wenn es nicht einige gewiefte Diplomaten mit wirtschaftlichem Weitblick gegeben hätte. Diese überzeugten die Russen die Ecke an die USA zu verkaufen. Die neuen Besitzer erhielten so eine neue Region mit einigen Orten, die aber stark russisch und von der russisch-orthodoxen Kirche geprägt waren, was sich auch noch in einigen Namen von Orten und auch Menschen zeigt. Ausserdem trifft man an vielen Stellen besonders im Süden des Staates viele Zeitzeugen der russischen Herrschaft. Seien es Kirchen und Friedhöfe, aber auch Gebäude, die den Jahrhunderten getrotzt haben.

Aber trotz der Akzeptanz der Geschichte und den Vorarbeiten der russischen Bewohner (die USA hatte kaum mehr Probleme mit feindlich gesinnten Ureinwohnern), werden Namen wie «Russian River» kurzerhand in «American River» verwandelt oder Häuser in den Farben der Ukraine gestrichen, Schilder wie «Putin go to hell» ins Fenster gehängt.

Gegensatz Indigene Darstellung Alaska – andere arktische Regionen

Ein weiterer Gegensatz, der sich in den drei Wochen (was zugegebenermassen knapp bemessen ist für eine vielfältige Region wie Alaska) offenbarte, ist der Umgang mit den indigenen Kulturen Alaskas. Aus den zahlreichen Aufenthalten in Nunavut und Grönland bin ich es gewohnt gewesen, auf Schritt und Tritt über die vielfältigen kulturellen Errungenschaften der Ureinwohner, ihre Lebensweise und auch ihr heutiges Leben informiert zu werden. Kaum ein Schild, eine Tafel oder auch nur ein Schriftstück, dass nicht neben Englisch/Französisch (für Kanada) und Dänisch (für Grönland) auch in Inuktitut und Kaalalisuut gehalten ist.

In den von mir besuchten Regionen von West-, Südwest-, Süd- und Zentralalaska hingegen ist das Indigene weniger augenscheinlich und prominent dargestellt, obwohl es einen wesentlichen Anteil an Gesellschaft und am Alltagsleben hat. Organisationen, die die Rechte der indigenen Bevölkerungsgruppen stärken, sind sehr weit verbreitet und haben einen grossen Einfluss, sowohl politisch wie auch gesellschaftlich. Aber trotzdem sind sie scheinbar dezenter in ihrem Auftritt und vieles, dass aus anderen arktischen und subarktischen Regionen wie Nunavik und Nunavut oder in den skandinavischen Regionen bekannt ist, findet sich in Alaska weniger. An vielen Orten finden sich zwar Zentren, die über die Geschichte, die Kultur und die Lebensweise der jeweiligen indigenen Bevölkerungsgruppe informiert; in Buchhandlungen und in Läden finden sich zahlreiche Bücher und auch handwerkliche Gegenstände zum Kauf. Doch es schien trotzdem versteckter und weniger prominent dargestellt.

Dies mag verschiedene Gründe haben, wie beispielsweise die enorme Vielfalt der verschiedenen Kulturen und indigenen Volksgruppen, so dass es schwierig wird, eine gemeinschaftliche Strategie zu fahren; vielleicht sind es auch rein finanzielle Aspekte und den Gruppierungen und Organisationen stehen viel weniger finanzielle Mittel zur Verfügung; vielleicht ist auch eine stärkere Assimilation der indigenen Bevölkerung in die US-amerikanische Gesellschaft und dadurch ein kleineres Bedürfnis sich stärker hervorzutun; vielleicht ist es einfach Zurückhaltung; oder vielleicht ist es einfach eine subjektive Wahrnehmung meinerseits, der sich in den vergangenen Jahr sehr stark mit dem Thema in den anderen arktischen Regionen befasst hatte. Doch die drei Wochen, in denen ich in Kodiak, Katmai, Nome, Anchorage, Fairbanks, Seward und in vielen dazwischenliegenden Gebieten Halt gemacht habe, um ein Gefühl für diese arktische Region zu erhalten, haben mir gezeigt, dass Alaska eine eigene Welt voller Wunder und natürlicher Schönheit ist, aber auch voller Gegensätze.

Dr. Michael Wenger, Polar Journal AG

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