Der polare Rückblick greift Geschehnisse der vergangenen Woche auf, die mit Arktis und Antarktis zusammenhängen und stellt einen oder mehrere Aspekte ins Zentrum der Betrachtung. Und gerade erst haben wir Halloween hinter uns gebracht, die Nacht, in der Geister und Monster durch die Straßen ziehen und uns einen wohligen Schauer über den Rücken jagen. Doch die wahren Schrecken lauern nicht in den dunklen Gassen unserer Städte, sondern in den eisigen Weiten der Arktis, wo die Grenzen der Wahrnehmung brüchig und die Fantasie Amok läuft.
Die Arktis, eine Region von ergreifender Schönheit und unbarmherziger Härte, hat schon immer die menschliche Fantasie beflügelt. Mit ihren scheinbar endlosen eisigen Weiten, den gähnenden Gletscherspalten der Eisschilde und der unheimlichen Stille bietet sie eine einzigartige Kulisse für Geschichten des Grauens und der Spannung. Doch nicht nur in der Fantasie von Autorinnen und Autoren: Immer wieder wurden echte Expeditionen in der Arktis von tragischen Schicksalen heimgesucht, verschollen in den endlosen Weiten oder dahingerafft von den unbarmherzigen Naturgewalten. Die Geschichten der Franklin-Expedition und der Greely-Expedition, geprägt von Hunger, Krankheit und Wahnsinn, sind bis heute Mahnmale für die Gefahren, die in der Arktis lauern.
Doch die Arktis ist nicht nur ein Ort des physischen Leids. Sie ist auch eine Bühne für die tiefsten Ängste und die dunkelsten Seiten der menschlichen Seele. In der Isolation und Dunkelheit der Polarnacht werden die Grenzen der Wahrnehmung brüchig, und die Fantasie läuft Amok. Kein Wunder, dass die Arktis zu einem beliebten Schauplatz für Horror- und Gruselfilme geworden ist, die mit den Urängsten des Menschen spielen.
Klaustrophobie in der endlosen Weite und Dunkelheit der Polarnacht
Eigentlich scheint es paradox: rund 27 Millionen Quadratkilometer (wenn man die klimatische Definition der Arktis nimmt) Fläche und trotzdem die Angst vor Klaustrophobie, die immer wieder in Geschichten auftaucht. Doch die Weite der Arktis kann trügerisch sein. Denn Menschen müssen sich in Gebäude zurückziehen, um vor der unbarmherzigen Natur geschützt zu sein. Und so wird beispielsweise im Film „The Midnight Sky“ die Isolation einer arktischen Forschungsstation zum beklemmenden Gefängnis, in dem die Protagonisten mit ihren eigenen Dämonen konfrontiert werden. Die Angst vor dem Unbekannten, die Ungewissheit über das Schicksal der Welt, und die wachsende Paranoia erschaffen dort eine Atmosphäre des psychologischen Terrors.
Auf der anderen Seite steht die Polarnacht, in der die Sonne monatelang nicht aufgeht. Sie verstärkt das Gefühl der Isolation und der Bedrohung durch kaum sichtbare Monster und Ungeheuer. Dabei entfacht sie eine Angst, die so alt wie die Menschheit selbst ist: die Angst vor der Dunkelheit. Diese ist ein tragendes Element vieler Grusel- und Horrorfilme und die Arktis bietet den perfekten Hintergrund dazu. So wird beispielsweise im Film „30 Days of Night“ eine alaskanische Stadt von einer Horde blutrünstiger Vampire heimgesucht, die die Dunkelheit nutzen, um ihre Opfer zu jagen. Der Film spielt gekonnt mit dieser Urangst vor dem Dunklen und dem Unbekannten, das in der Nacht zum Leben erwacht.
Die Natur als unbarmherziger Feind
Auch die arktische Natur selbst hat dank den Beschreibungen und Geschichten der Polarforscher die Fantasie angeregt. Oft mit Übertreibungen versehen, die als künstlerische Freiheiten beschrieben werden, liefert sie aber dennoch viel Material für die Leinwände. So wird in den Filmen „The Grey“ und „The Last Winter“ die Natur selbst zum Antagonisten. Liam Neeson kämpft in „The Grey“ nicht nur gegen ein Rudel Wölfe, sondern auch gegen die erbarmungslose Kälte und die unberechenbaren Schneestürme der alaskanischen Wildnis. In „The Last Winter“ wird ein Team von Ölbohrarbeitern von einer mysteriösen Kraft angegriffen, die aus dem schmelzenden Permafrost erwacht. Die Filme zeigen die Macht der Naturgewalten und die Verletzlichkeit des Menschen in dieser unwirtlichen Umgebung.
Die Suche nach dem Unbekannten und der Schrecken der Vergangenheit in der Gegenwart
Viele früher unbekannte Regionen waren fantastischen Vorstellungen ausgesetzt. Auch die Arktis war schon immer ein Ort der Mythen und Legenden, der verlorenen Zivilisationen und der übernatürlichen Phänomene und das schon seit Jahrhunderten. Inspiriert vom Buch aus dem Jahre 1816, zeigt der Film „Mary Shelley’s Frankenstein» von 1994 beispielsweise, wie das Geschöpf in die Arktis flieht, gejagt von seinem Schöpfer Victor Frankenstein. Die eisigen Weiten werden zum Schauplatz ihrer gemeinsamen Konfrontation mit dem eigenen Schicksal und den Grenzen der menschlichen Existenz. Der Film zeigt, wie die Suche nach Wissen und die Überschreitung menschlicher Grenzen zu ungeahnten Konsequenzen führen kann.
Im Zuge der technischen Neuerungen des 19. Jahrhunderts, machten sich viele Expeditionen in die Arktis auf, um die fantastischen Vorstellungen zu beweisen oder zu widerlegen. Und diese Geschichte der Polarforschung ist voller Tragödien und die Expeditionen selbst wurden Beispiele ungelöster Rätsel, die von der Filmindustrie wieder aufgenommen wurden. Die Franklin-Expedition von 1845, die auf der Suche nach der Nordwestpassage verschwand, inspirierte die Serie „The Terror“, die die Geschichte der Expedition mit übernatürlichen Elementen verknüpft. Die Serie zeigt, wie die Isolation, der Hunger und die Angst die Männer in den Wahnsinn treiben und sie zu Opfern einer unheimlichen Kreatur werden.
Die Psyche und ihre Grenzen zwischen Realität und Fantasie
Doch die wirklich beängstigenden Geschichten spielen sich nicht nur in den eisigen Weiten ab, sondern auch in den Köpfen der Menschen. Die extreme Isolation, die Dunkelheit und die Kälte können die menschliche Psyche stark beeinflussen. In Filmen wie „Arctic“ und „Hold the Dark“ kämpfen die Protagonisten nicht nur ums Überleben, sondern auch gegen ihre eigenen Dämonen, gegen die Angst, den Wahnsinn und die Auflösung der eigenen Identität.
Dagegen wird die Arktis im neu erschienen Film „The Damned“ (2024) zu einem Portal zum Übernatürlichen. Nachdem die Bewohnerinnen und Bewohner eines isländischen Dorfes im Kampf ums Überleben eine Grenze überschreiten, breitet sich plötzlich das Grauen aus. Geisterhafte Erscheinungen und mythische Kreaturen lauern in der Einsamkeit und stellen die menschliche Existenz in Frage. Dabei spielt der Film mit der Angst vor dem Unbekannten, dem Unkontrollierbaren und vor allem mit der Macht des Übernatürlichen.
Insgesamt zeigt sich, dass die Arktis einerseits ein Ort der Faszination ist, andererseits ein Ort des Schreckens, ein Ort, an dem die Grenzen zwischen Realität und Fantasie verschwimmen. Die eisigen Weiten sind nicht nur eine Herausforderung für den menschlichen Körper, sondern auch für die menschliche Seele. Und in den dunkelsten Ecken der Arktis lauern nicht nur die Gefahren der Natur, sondern auch die Abgründe der menschlichen Existenz.
Dr. Michael Wenger, Polar Journal AG