In der Barentssee nördlich des Nordkaps ist es einem Forschungsteam erstmals gelungen, mit einer neuartigen akustischen Kartierungstechnik ein gewaltiges Jagdereignis zu beobachten: 2,5 Millionen Atlantische Dorsche fielen über einen fast zehnmal größeren Schwarm von Lodden her und halbierten diesen beinahe innerhalb weniger Stunden.
Milliarden von Lodden, oder Kapelanen (Mallotus villosus), wandern jedes Jahr im Februar von der arktischen Meereiskante in Richtung Süden an die norwegische Küste, um zu laichen. Das wissen auch die Atlantischen Dorsche, oder Kabeljaue (Gadus morhua), für die die kleinen Lodden — in etwa so groß wie Sardellen — auf ihrem Weg in Richtung Lofoten eine willkommene Mahlzeit sind.
Welche Ausmaße ein solches Räuber-Beute-Ereignis annehmen kann, zeigte erst die Forschungsarbeit eines Teams des Massachusetts Institute of Technology (MIT) und des norwegischen Institute of Marine Research. In der am 29. Oktober in Nature Communications Biology veröffentlichten Studie beschreiben die Forschenden das beinahe unvorstellbare Ereignis:
Eine riesige Zahl zunächst einzeln oder in kleinen Gruppen schwimmender Lodden formte sich am frühen Morgen zu einem massiven Schwarm mit etwa 23 Millionen Individuen, der sich über Dutzende Kilometer erstreckte. Für die sich in der Nähe aufhaltenden Dorsche war dieser ökologische «Hotspot» eine Einladung zum Festmahl. Die eben noch einzeln schwimmenden Dorsche, die bis zu 1,5 Meter lang und bis zu 50 Kilogramm schwer werden können, bildeten ihrerseits einen riesigen Schwarm. Dank neuer großflächiger, akustischer Bildgebungstechnik, die die marine Umgebung über Zehntausende Quadratkilometer abbildet, konnten die Forschenden beobachten, wie etwa 2,5 Millionen Dorsche innerhalb weniger Stunden 10,5 Millionen Lodden fraßen und somit deren Schwarm fast halbierten. Es ist das weltweit größte Räuber-Beute-Ereignis, das bisher im Ozean aufgezeichnet wurde, sowohl im Hinblick auf die Anzahl der Tiere als auch die Größe des Gebiets.
«Es ist das erste Mal, dass wir eine Raubtier-Beute-Interaktion in einem riesigen Ausmaß sehen, und es ist ein kohärenter Kampf ums Überleben», schildert Nicholas Makris, Professor für Maschinenbau und Meerestechnik am MIT und Senior-Autor der Studie, in einer Pressemitteilung des Instituts. «Wir beobachten, wie eine Welle von Lodden heranrauscht, wie eine Welle um ein Sportstadion, und wie sie sich zusammenschließen, um sich zu verteidigen. Das geschieht auch mit den Raubfischen, die sich zusammenschließen, um gemeinsam anzugreifen.»
Obwohl Millionen von Lodden im Magen der Dorsche landeten, gehen die Forschenden nicht davon aus, dass ein Jagdereignis dieser Größe die Loddenpopulation insgesamt schwächt. In ihrer Studie schreiben sie, dass der angegriffene Schwarm lediglich 0,1 Prozent der Lodden ausmacht, die in der Region laichen.
«Bei unserer Arbeit sehen wir, dass natürliche katastrophale Fressereignisse das lokale Raubtier-Beute-Gleichgewicht innerhalb weniger Stunden verändern können», sagt Makris. «Das ist kein Problem für eine gesunde Population mit vielen räumlich verteilten Populationszentren oder ökologischen Hotspots. Da aber die Zahl dieser Hotspots aufgrund des Klimas und anthropogener Einflüsse abnimmt, könnte ein natürliches ‚katastrophales‘ Raubtierereignis, wie wir es bei einer Schlüsselart erlebt haben, dramatische Folgen für diese Art und die vielen von ihr abhängigen Arten haben.»
Die globale Erwärmung führt dazu, dass sowohl die Lodden als auch die Dorsche zwischen ihren Nahrungsgebieten, die sich in der Eisrandzone befinden und immer weiter nach Norden verlagern, und ihren Laichgebieten an der norwegischen Küste zunehmend größere Entfernungen zurücklegen müssen.
Eine dramatische Verkleinerung der Gesamt-Loddenpopulation hätte für das Ökosystem in der Barentssee verheerende Folgen, denn neben dem Dorsch hängen noch zahlreiche weitere Arten von der Lodde als Beutetier ab, darunter Meeressäuger und Seevögel.
Die Daten für die aktuelle Studie wurden bereits im Februar 2014 während einer Forschungsfahrt vor der Küste Norwegens gesammelt. Mithilfe einer speziellen akustischen Bildgebungstechnik, dem Ocean Acoustic Waveguide Remote Sensing (OAWRS)-System, bei der Schallwellen in alle Richtungen in den Ozean ausgesendet und von einer Reihe akustischer Empfänger aufgenommen werden, erstellte das Team großräumige Karten des Ozeans.
Die erneute, «multispektrale» Analyse der Daten erlaubte es den Forschenden, zwischen den Arten zu unterscheiden und die Bewegungen der einzelnen Arten über eine große Fläche zu kartieren. «Fische haben Schwimmblasen, die wie Glocken schwingen», erklärt Makris. «Kabeljaue haben große Schwimmblasen, die eine tiefe Resonanz haben, wie eine Big-Ben-Glocke, während Lodden winzige Schwimmblasen haben, die wie die höchsten Töne eines Klaviers klingen.»
Die Forschenden betonen in ihrer Studie, dass die großräumige Überwachung von Fischpopulationen und die Erforschung der Interaktionen zwischen den verschiedenen Arten unerlässlich ist, um nachhaltige Entscheidungen im Fischereimanagement treffen zu können.
«Es hat sich immer wieder gezeigt, dass es, wenn eine Population kurz vor dem Zusammenbruch steht, einen letzten Schwarm gibt. Und wenn diese letzte große, dichte Gruppe verschwunden ist, kommt es zum Zusammenbruch», so Makris. «Man muss also wissen, was es dort gibt, bevor es weg ist, denn der Druck ist nicht zu ihren Gunsten.»
Julia Hager, Polar Journal AG