Es gibt Bergreisen, die sind anders als alle anderen. Es sind Reisen, die uns in eine andere Welt führen. Auf der Suche nach den abgelegensten Bergen unserer Erde kommt man irgendwann unweigerlich in die Antarktis.
Auch wenn Antarktika in letzter Zeit immer wieder in das Interesse der Weltöffentlichkeit rückt, so liegen die schwer zugänglichen antarktischen Hochgebirge noch immer weit jenseits des Bewusstseins der meisten Menschen. Selbst in geographischer Fachliteratur über die Hochgebirge der Erde spielen jene der Antarktis bestenfalls eine Nebenrolle. Wer weiß daher von den eisgepanzerten Schönheiten der Antarktischen Halbinsel? Den hohen Viertausendern am Dach des Kontinents in Ellsworth Land? Den bizarren Felstürmen in Dronning Maud Land? Den im Eis schlummernden Vulkanriesen in Marie Byrd Land? Den sturmumtosten Gipfeln der subpolaren Inseln? Oder der Gebirgskette quer durch den Kontinent, die sogar länger ist als der Himalaya?
Nur an wenigen Stellen durchbrechen Berge die Eispanzer Antarktikas oder erheben sich freistehend über dem Eisschild. Die meisten Berge sind unter dem bis zu vier Kilometer dicken Inlandeis verborgen.
Die antarktische Hochgebirgswildnis ist von unvergleichlicher, ja beinahe außerirdisch anmutender Schönheit. Ihr Landschaftsbild ist, wenn überhaupt, mit den obersten und wohl schönsten Stockwerken der Alpen – oder auch der Himalayaberge – im Winter zu vergleichen. Aber natürlich gibt es auch ganz wesentliche Unterschiede durch das Polarklima und die hohe geographische Breitenlage. So braucht man sich beispielsweise im Südsommer wegen der Mitternachtssonne in der Antarktis keine Gedanken zu machen, von der Dunkelheit „überrascht“ zu werden. Man kann rund um die Uhr nach Herzenslust unterwegs sein. Und das, durch die tief stehende Sonne, bei oft schönstem Nachmittagslicht. Meist ist es zwar klirrend kalt. Die Kälte ist aber durch die extrem trockene Luft relativ gut verträglich. Dabei sind Einsamkeit, Abgeschiedenheit und Unberührtheit der antarktischen Hochgebirge ohne Wegweiser, Bergwege und Schutzhütten ohnehin einzigartig. Unzählige unbestiegene Berge bieten viel Neuland für entdeckungsfreudige Alpinisten, von einfachen Schneeflanken über steile Eiscouloirs, kombinierte Wände und wild verwechtete Grate bis zu senkrechten Granitpfeilern.
Transantarktisches Gebirge
Das 100 bis 300 Kilometer breite Transantarktische Gebirge erstreckt sich von Victoria Land am Geographischen Südpol vorbei bis Coatsland. Es teilt den Kontinent in die Ost- und Westantarktis und ist mit einer Länge von etwa 3500 Kilometern der fünftlängste Gebirgszug der Erde. Die Gipfel des Gebirges erreichen Höhen deutlich über viertausend Meter. Der Höchste ist der 4528 Meter hohe Mt. Kirkpatrick in der Queen Alexandra Range. In diesem schwer zugänglichen südlichsten Teil des Gebirges liegt der Mt. Elizabeth (4480 m), der höchste noch unbestiegene Berg des Kontinents. Aber auch in den weiter nördlich liegenden Gebirgsteilen harren noch unzählige große Gipfel ihrer Erstbesteigung, etwa Mt. Ajax (3770 m), Mt. Sabine (3719 m) oder der Mt. Royalist (3640 m) in den Admirality Mountains. Vom Südpolarplateau fließen riesige Auslassgletscher durch das Transantarktische Gebirge und speisen das Ross-Eisschelf. Beim berühmten „Wettlauf zum Südpol“ im Jahr 1911 folgte der Brite Robert F. Scott dem 160 Kilometer langen und 30 Kilometer breiten Beardmore-Gletscher, während der siegreiche Norweger Roald Amundsen einen Weg über den kürzeren, aber steileren Axel-Heiberg-Gletscher durch das Transantarktische Gebirge fand. Ein besonderes und wüstenhaftes Phänomen dieses Gebirges stellen die praktisch niederschlagsfreien Dry Valleys dar, in denen sich die NASA auf Marsmissionen vorbereitet.
Antarktische Halbinsel
Die unmittelbar aus dem Meer und teilweise bis über zweieinhalbtausend Meter hoch aufragenden, stark vereisten Gebirge der Antarktischen Halbinsel ziehen seetüchtige Alpinisten, Schitourengeher und Freerider an. Die Antarktische Halbinsel und ihre Inseln, wie Brabant, Anvers oder Adelaide Island, sind zwar mit Yachten von der Südspitze Südamerikas aus relativ leicht erreichbar – allerdings muss davor die berüchtigte Drake-Passage mit den sturmgepeitschten Breiten der „Howling Fifties“ und der „Screaming Sixties“ durchquert werden. Und gerade das stellt die größte Hürde für eine Bergexpedition auf die Antarktische Halbinsel dar. Orkanartige Stürme und Wellengang bis zehn Meter Höhe sind hier keine Seltenheit. Die Anreise zu Bergen mit so klingenden Namen wie Mt. Parry (2520 m), Mt. Shackleton (1465 m), Mt. Scott (880 m), Mt. Demaria (635 m) oder Jabet Peak (545 m), muss daher von vielen mit satter Seekrankheit erkämpft werden. Man darf sich übrigens durch die vergleichsweise niedrigen Höhen der Bergspitzen nicht täuschen lassen. Das hochalpine Antlitz der Berge ähnelt dem der Alpenberge oberhalb der Firngrenze, die in der Antarktis aber eben nicht erst auf 3000 Metern, sondern auf oder knapp über dem Meeresniveau beginnt: Es ist, als schlüge die Meeresbrandung direkt an den Fuß einer Droites-Nordwand, eines Brenvasporns oder eines Walkerpfeilers.
Die stark vereisten Küstengebirge mit ihren schroffen Wänden, wild zerklüfteten und sich ins Meer ergießenden Gletschern, treibenden Eisbergen, Walen, Robben und Pinguinen machen die Antarktische Halbinsel zu einem maritim-polaren Hochgebirgs-Naturparadies von unvergleichlicher Schönheit. Ihre starke Vergletscherung ist Zeichen des oft stürmischen Wetters und der niederschlagsreichen Westwindzone, in die die Halbinsel hineinragt. An die schweren Felsrouten wagten sich hier bislang nur wenige Kletterer wie Stefan Glowacz, dem 1999 an den doppelgipfeligen Renard Towers (747 m, seit 2008 auch Una Peaks genannt) eine Tour im neunten Grad gelang, die er – nomen est omen – „Hart am Wind“ taufte.
Ellsworth Mountains
Die höchsten Erhebungen des Kontinents liegen in der Sentinel Range, die zusammen mit der niedrigeren, aber weitläufigeren Heritage Range die Ellsworth Mountains bildet. Das Gebirge ist nach dem US-Pilot Lincoln Ellsworth benannt, der auf einem Polarflug 1935 „eine sehr hohe, wolkenumhangene Gebirgskette“ sichtete. Das eigentliche Vinson- Massiv wurde aber erst während eines Erkundungsfluges der US Navy 1957 entdeckt und als höchster Gebirgstock identifziert. Hier liegen mit dem Mt. Vinson (4892 m) als höchstem Gipfel sowie Mt. Tyree (4852 m), Mt. Shinn (4660 m), Mt. Gardner (4573 m) und Mt. Epperly (4508 m) die höchsten Berge Antarktikas. Was ihre Erscheinungsform und auch ihrer relative Höhe angeht, brauchen sie einen Vergleich mit Himalayariesen sicher nicht zu scheuen, denn sie ragen deutlich über 3000 Meter aus den sie umgebenden Eismassen auf.
Es bedarf guter Vorbereitung, sich mitten im Nirgendwo und weit weg von jeglicher Zivilisation an völlig einsamen Bergen vom Format eines Mont- Blanc absetzen zu lassen. Und das vor allem auch hinsichtlich der physiologischen Höhe. Denn durch die Ausdünnung der Atmosphäre zu den Polen hin ist der Sauerstoffpartialdruck hier ähnlich wie an einem hohen Fünftausender der niederen geographischen Breiten. Die Viertausender der Antarktis erfordern daher eine gute Akklimatisation. Während die großen Gipfel der Ellsworth Mountains bereits bestiegen sind, gibt es noch zahlreiche unbestiegene Dreitausender und vor allem noch große Wände und Grate, die auf eine Besteigung warten.
Dronning Maud Land – Neuschwabenland
Die wohl spektakulärsten Berge des Kontinents sind in Dronning Maud Land und seiner Teilregion Neuschwabenland zu finden. Hier durchstoßen imposante Felstürme die Abdachung des ostantarktischen Eisplateaus und erheben sich mit ihrem rötlichen, teilweise bizarr verwitterten Gestein senkrecht aus den weißen Ebenen. Nicht so hoch wie die Ellsworth Mountains und nicht so versteckt wie die Berge des Transantarktischen Gebirges, sind die Filchner-, Drygalski-, Holtedahl- oder Humboldtberge wahre Traumziele – nicht nur für Kletterer und Alpinisten, sondern auch für Fotografen.
Kaum eine Region Antarktikas beflügelt die Träume und Phantasien mehr als Neuschwabenland, das während der Deutschen Antarktischen Expedition 1938/39 entdeckt und mit den vom Mutterschiff „Schwabenland“ katapultierten Dornier-Waal-Flugzeugen aus der Luft erkundet wurde. So findet man in den topographischen Karten heute hunderte deutschsprachige Bergnamen wie das Matterhorn, den Zuckerhut oder den Kubus neben ebenfalls treffenden, zum Teil an die norwegische Mythologie erinnernden Namen wie Ulvetanna („Wolfszahn“, 2931 m), Holtanna („Hohlzahn“, 2650 m) und Kintanna („Backenzahn“, 2724 m) im Fenriskjeften-Gebirge („Gebiss des Fenriswolfs“) oder Rakekniven („Rasiermesser“, 2365 m) im Massiv des Trollslottet („Trollenschloss“, 2737 m). Die Jøkulkyrkia („Gletscherkirche“, 3148 m) ist der höchste Gipfel Dronning Maud Lands. Da das Gebiet von Norwegen territorial beansprucht wird, gilt dieser Berg manchen Norwegern gar als höchster Berg ihres Landes. Wie alle anderen Territorialansprüche in der Antarktis liegt aber auch jener Norwegens durch den Antarktis-Vertrag von 1959 wortwörtlich auf Eis.
Erst eine Handvoll Gipfel wurde hier bislang bestiegen. An den senkrechten Felsmonolithen gelangen aber auch die schwersten Klettertouren des Kontinents – durch Kletterstars wie Robert Caspersen, Ivar Tollefsen, Conrad Anker, Alex Lowe, Ralf Dujmovits, Mike Libecky, Thomas und Alex Huber, Alexander Gamme, Andy Kirkpatrick, Leo Houlding oder Alex Honnold, um nur einige zu nennen. Sam Beaugey, Sébastien Collomb-Gros und Géraldine Fastnacht gelang am 13. Dezember 2009 am Holstind sogar der erste Basejump in Antarktika. Valery Rozov sprang 2010 vom Ulvetanna, Kjersti Eide und Espen Fadnes 2014 von einem namenlosen Berg im Holtedahlfjella.
Autor: Christoph Höbenreich