Antarctica – Weiße Riesen II | Polarjournal
Das subpolare Naturjuwel Südgeorgien ist die Heimat zigtausender Königspinguine, wie hier in der St. Andrews Bay vor dem Mt. Brooker (1881 m) und dem Cook Glacier in den Ausläufern der Allardyce Range. (Foto: Christoph Höbenreich)

Die subpolare Inselwelt

Nicht mehr unmittelbar auf dem Kontinent der Antarktis, aber innerhalb der antarktischen Konvergenz im Südpolarmeer liegend, dürfen auch die eisge­panzerten Berge der subpolaren South Shetland Islands, South Orkney Islands und natürlich South Georgia Island nicht vergessen werden. Südgeor­gien ist nicht nur wegen seiner Vogelwelt und den großen Pinguin-, Robben- und Seeelefanten-Kolo­nien ein wahres Naturjuwel. Die Allardyce und Salvesen Range bilden das Rückgrat der großteils vergletscherten Insel und bieten sehr abenteuerli­ches Expeditionsbergsteigen auf schwer zugängli­chen und sehr selten bestiegenen Gipfeln wie dem Nordenskjöld Peak (2354 m), Mt. Brooker (1881 m), Mt. Sugartop (2323 m), Mt. Ashley (1145 m) oder Mt. Roots (2281 m). Die ehemalige Walfängerinsel Südgeorgien gehört wie die Falklands zu den briti­schen Überseeterritorien, ist also zwar nicht Teil des Vereinigten Königreichs, steht aber unter des­sen Souveränität und ist reich an britischer Polar­geschichte. 1916 durchquerte Ernest Shackleton die Insel auf seiner epochalen Reise zur Rettung seiner in der Antarktis gestrandeten „Endurance“- Mannschaft. Und die Erstbesteigung des Mt. Paget (2935 m), des höchsten Berges der Insel, gelang Mitgliedern der British Combined Services Expedi­tion to the Antarctic am 30. Dezember 1964.

Der aktive Vulkan Mt. Erebus (3794) auf Ross Island war der erste große Berg, der in der Antarktis am 10. März 1908 bestiegen wurde. (Foto: Michael Martin)

Die Vulkane Marie Byrd Lands und der Ross See Region

Beim verheißungsvoll klingenden Namen Antark­tika denkt man vor allem an weite Eisplateaus. Vulkane gehören eher nicht zum üblichen Bild des Kontinents um den Südpol. Am ehesten bekannt dürfte noch der vom Meer weithin sichtbare und bisweilen qualmende Mt. Erebus (3794 m) auf Ross Island im Hinterland von McMurdo sein. Er war nicht nur der erste große Berg, der in der Ant­arktis bestiegen wurde (bereits 1908), er erlangte leider auch durch das größte Unglück in der Ant­arktis traurige Bekanntheit: Am 28. November 1979 geriet ein Passagierflugzeug der Air New Zealand auf einem Besichtigungsflug in einen Whiteout und prallte an den Berg; alle 257 Men­schen an Bord kamen ums Leben.

Andere antarktische Vulkane wie der Mt. Mel­bourne (2733 m) im ostantarktischen Victoria Land sind weniger bekannt. An der pazifischen Antark­tisküste von Marie Byrd Land erstreckt sich sogar eine über 700 Kilometer lange Kette von 22 wie glänzende Perlen aufgefädelter Vulkane. In ihrer Mitte liegt die 80 Kilometer lange Vulkangruppe der Executive Committee Range mit den höchsten eisbedeckten Vulkangipfeln des Kontinents. Unter diesen wiederum überragt kein anderer den Mt. Sidley. Dessen Höhe – um 4200 Meter – ist aller­dings noch nicht einmal genau vermessen. Der komplexe Stratovulkan ist der geologisch jüngste Vulkan der „Perlenkette“ und gilt als erloschen. Aber erst vor wenigen Jahren haben Seismologen mit Schlittenfahrzeugen unter dem Inlandeis in nur 50 Kilometer Entfernung des Mt. Sidley starke seismi­sche Aktivitäten festgestellt und direkt unter dem Vulkan einen Mantelplume, das heißt einen riesi­gen aufsteigenden Klumpen heißes Magma in fast 100 Kilometer Tiefe entdeckt. Als das einstige Gond­wanaland in die heutigen Südkontinente zerfiel, wurde auch der Kontinent Antarktika tektonisch auseinandergerissen. So entstanden in der West­antarktis Grabenbrüche, die dem ostafrikanischen Riftsystem ähneln, aber mehrere tausend Meter dick vom Inlandeis bedeckt sind. Der Bentley-Gra­ben, dessen tiefster Punkt 2500 Meter unter dem Niveau des Meeresspiegels liegt, ist die weltweit tiefste nicht von Ozeanen bedeckte tektonische De­pression. An der Oberfläche sind die mächtigen Vulkane sichtbare Zeugen der starken tektonischen Aktivität. Und unter der westantarktischen Eisdecke verborgen hat man weitere 138 Vulkane entdeckt. Bislang unbemerkte Zeitbomben? Der Ausbruch ei­nes subglazialen Vulkans hätte wohl verheerende Folgen.

Der Weg zum Gipfelkrater des Mt. Sidley führt durch ein Labyrinth riesiger Eispilze. (Foto: Christoph Höbenreich)

Der Mt. Sidley wurde erstmals vom US-ameri­kanischen Polarforscher Admiral Richard Evelyn Byrd während eines Erkundungsfluges 1934 ge­sichtet. Er gab der buchstäblich herausragenden Erscheinung den Namen von Mabelle Sidley, der Tochter eines Geldgebers seiner Expedition. Zu­vor hatte der Admiral schon die gesamte an die Amundsen-See angrenzende Region nach seiner Ehefrau benannt. Marie Byrd Land ist mit einer Fläche von 1,6 Millionen Quadratkilometern drei Mal so groß wie Frankreich und wird selbst für antarktische Verhältnisse sehr selten aufgesucht. Vor seinen Küsten gibt es keinen regelmäßigen Schiffsverkehr, im Landesinneren weder Lande­pisten noch permanente Forschungsstationen. Marie Byrd Land wird bis heute nicht einmal von irgendeinem Staat territorial beansprucht. Es ist das flächengrößte Niemandsland der Erde! Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass selbst so formschöne und küstennahe Vulkane wie der Mt. Siple (3110 m) kaum Beachtung finden und ein sonniges Schattendasein führen.

Michael Guggolz erreichte am 14. Januar 2017 als erster deutscher den Gipfel des Mt. Sidley. (Foto: Christoph Höbenreich)

Mt. Sidley – der höchste Vulkan Antarktikas

Ein noch isolierteres und erhebenderes Gefühl, „über den Dingen zu stehen“, vermittelt der zwar nicht ganz so hohe, aber dafür völlig frei stehen­de, höchste Vulkan Antarktikas. Die Karte des US-Geological Survey (1961), die US Air Navigation Chart (1963) und die SCAR Air Operations Plan­ning Map (2016) weisen eine Höhe von 4181 Me­ter aus, Antarctic Logistics & Expeditions geben 4285 Meter an. Tatsächlich ist der Gipfelkraterrand aber weder exakt vermessen noch markiert. Schön, dass es noch Berge mit solchen Geheim­nissen gibt! Fast vollständig vereist, erhebt er sich etwa 2200 Meter über dem schier endlosen west­antarktischen Eisplateau Marie Byrd Lands. Außen prägen sanfte, weiße und hellblau schimmernde Eisflanken sein majestätisches Antlitz. Durch eine Laune der Natur zieren bizarr geformte Eispilze aus meterhohem Anraumeis den Gipfelkraterrand wie eine Krone das eisgespickte Haupt des Königs der antarktischen Vulkane. Die hufeisenförmige Kraterinnenseite hat einen Durchmesser von fünf Kilometern und bricht in einer imposanten Steil­wand aus bröckeligem Lavagestein und Eis 1200 Meter in die Tiefe ab. Seine Lage nahe dem Südpol, die aufwändige Logistik und seine beinahe völlige Unberührtheit machen den Berg zu einem sehr exklusiven Ziel für abenteuerlustige „Volcanoho­lics“, die als Sammler der „Volcanic Seven Sum­mits“ den jeweils höchsten Vulkan der sieben Kon­tinente besteigen. Diese attraktive Sammlung er­loschener oder noch aktiver Feuerberge wurde erst 2011 am Gipfel des Mt. Sidley erstmals vom Italiener Mario Trimeri und seither nur von einer kleinen Handvoll Bergsteiger komplettiert. Dass der Mt. Sidley selbst in gut informierten Bergstei­gerkreisen noch immer kaum bekannt ist, ver­wundert kaum, wurde der Gipfelbereich des Vulkans erst am 11. Januar 1990 vom neuseelän­dischen Polarforscher Bill Atkinson erstmals auf­gesucht. 1994 folgten Mitglieder des US-amerika­nischen Antarktis Forschungsprogramms USARP. Und erst 2011 gelang dann die erste Besteigung des vormals für private Bergsteiger praktisch un­zugänglichen Berges im Zuge einer nicht staatlich organisierten Expedition. Eine Expedition zum Mt. Sidley fordert auch heute noch Pionier- und Ent­deckergeist. Hier ist ein Bergsteigerteam noch völlig auf sich gestellt. Im Januar 2017 hatte ich die Ehre, die achte Expedition zu diesem Berg überhaupt zu begleiten und gemeinsam mit der amerikanischen Bergführerkollegin Tre-C Dumais führen zu dürfen – zu einem der entlegensten und am seltensten bestiegenen Berge der Erde.

Karl Pichler und Paul Koller am 18. Januar 2009 als erste Menschen auf dem Gipfel des Steirerturms mit Blick auf den am nächsten Tag bestiegenen Kamelbuckel in der Bildmitte und den Würfelturm, links, den der Autor zehn Jahre später, am 7. Januar 2019 zusammen mit Michael Guggolz und Kjetil Kristensen erstbesteigen konnte. (Foto: Christoph Höbenreich)

Der Klimawandel in der Antarktis

Polarreisen liegen im Trend. Der gut und öffent­lichkeitswirksam dokumentierte Klimawandel be­feuert geradezu den Reiseboom im höchsten Nor­den und tiefsten Süden. Es scheint fast eine Art Torschlusspanik zu herrschen nach dem Motto: Besuchen Sie die Polargebiete, solange sie noch weiß sind!

Die dramatischen Bilder des abschmelzenden Polareises stammen aus der Arktis, von Rekord- Eisschmelzen in Grönland, vom Schmelzwasser im auftauenden Permafrost-Samenbunker auf Spitz­bergen und von einem im Sommer bald eisfreien Nordpol. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Arktis stärker als jede andere Weltregion erwärmt. Man spricht dort von einem Temperatur­anstieg von 6 Grad (!) innerhalb der letzten dreißig Jahre. Die Auswirkungen auf das Landschaftsbild im Nordpolargebiet sind unübersehbar.

Aber was ist im Südpolargebiet los? Auch in Teilen der Ant­arktis sind die Zeichen des Klimawandels sichtbar: Einige kleine Schelfeise an der Antarktischen Halbinsel sind in den vergangenen drei Jahrzehn­ten zerbrochen. Die winterliche Meereisbede­ckung rund um die Antarktis nimmt dagegen seit Jahren kontinuierlich zu. Und in küstennahen Ge­bieten kommt es zu immer mehr Niederschlag. Auswirkungen der Klimaänderungen in Antarkti­ka sind aber schwer zu messen. Rund um den Süd­pol sind 14 Millionen Quadratkilometer von Eis bedeckt. Der gefrorene Panzer ist stellenweise über 4500 Meter dick und drückt den Kontinental­schild unter sich ein. Berechnungen gehen davon aus, dass hier 30 Millionen Kubikkilometer Eis vor sich hinschlummern – 90 Prozent des gefrorenen Wassers weltweit. Täuscht der Eindruck, dass das Eis der Ostantarktis, das mit Abstand größte Eis­vorkommen der Erde, die „globale“ Klimaerwär­mung derzeit verschläft?

Schrägluftbilder des südlichen Holtedahlgebirges von Autor 2009 (links) und von der deutschen Antarktischen Expedition 1939 (rechts) zeigen nicht nur keine Abnahme der Gebirgsvergletscherung, sondern vielmehr eine verstärkte Schneekumulation. (Foto: Christoph Höbenreich, Archiv BKG)

Bei einem Langzeitvergleich aktueller Luftauf­nahmen mit den Fotografien der Deutschen Ant­arktischen Expedition von 1939 konnten Karsten Brunk und ich feststellen, dass es in den Bergen von Neuschwabenland in den vergangenen acht Jahrzehnten keine Veränderungen im Land­schaftsbild gegeben hat, die auf eine Abnahme der Schnee- oder Eisbedeckung schließen ließe, wie sie sonst in praktisch allen Hochgebirgen der niederen und mittleren Breiten und auch in der Arktis dramatisch zu beobachten ist. Die antarkti­sche Gebirgsvergletscherung hingegen hat sich nicht zurückgebildet. Auch die Flankenvereisung der Berge ist nicht weniger geworden. Im Gegen­teil! Namhafte Polarwissenschaftler bestätigen diese Beobachtung. Dr. Georg Delisle von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Roh­stoffe in Hannover, die zwei Sommerstationen in der Ostantarktis unterhält, bestätigt: „In den ver­gangenen 30 Jahren hat es hier keine Hinweise auf markante klimatische Änderungen gegeben.“ Und nach einem Bericht des Wissenschaftlichen Ausschusses für Antarktisforschung ist ein Groß­teil Antarktikas in den letzten Jahrzehnten nicht dem globalen Trend der Klimaerwärmung ge­folgt, sondern hat sich sogar abgekühlt! Eine 2020 im renommierten Wissenschaftsmagazin NATURE publizierte, topaktuelle Studie bestätigt: „Der antarktische Kontinent hat sich in den letzten sie­ben Jahrzehnten trotz eines monotonen Anstiegs der atmosphärischen Konzentration von Treibhausgasen nicht erwärmt.“

Beobachtete Anomalie der Oberflächentemperatur (K) über die Jahre 1984-2014 im Vergleich zur Basisperiode 1950-1980. Die Konturen zeigen die Oberflächenhöhe über dem Meeresspiegel in Meter. (Graphik: H.A. Singh, L.M. Polvani 2020)

Auch Dr. Heinz Miller vom Alfred Wegener Ins­titut für Polar- und Meeresforschung in Bremerha­ven bekräftigt, dass die Ostantarktis ein sehr stabi­les Gebilde sei. „Und selbst wenn sich die innere Antarktis erwärmen sollte“, sagt er, „bleibt sie im­mer noch sehr kalt“. Immerhin werden im Inneren des eiskalten Kontinents teilweise bis zu -80 Grad Celsius gemessen und das Jahresmittel ist in der Ostantarktis mit unter -30 Grad Celsius mehr als frostig. „Wird es dort um ein paar Grad wärmer, schmilzt immer noch nichts“, bringt es der gebür­tige Innsbrucker nüchtern auf den Punkt. Eine Er­wärmung könnte vielmehr dazu führen, dass es auch in der ansonsten äußerst trockenen Eiswüste sogar vermehrt zu Schneefällen kommt. Und tat­sächlich lässt sich durch die Vergleiche der Luft­aufnahmen in den Hochgebirgen Neuschwaben­lands eindeutig eine Zunahme der Schneeakku­mulation und Eisbedeckung feststellen. Von ab­schmelzenden Gletschern oder Eisflanken ist im Inneren Antarktikas jedenfalls weit und breit kei­ne Spur. Oder anders gesagt: Der Klimawandel lässt die Hochgebirge Antarktikas noch völlig kalt.

Mit Skitourenschuhe, alpine Rennski und Hoch­leistungs-Snowkites demonstrierten Leo Holding, Mark Sedon und Jean Burgun wie sie sich und ihre schweren Schlitten buchstäblich in Windeseile übers Eis bewegten. (Foto: Mark Sedon)

Polarlogistik

Wie überall auf der Welt konzentrieren sich die meisten alpinisti­schen Aktivitäten auch in der Antarktis auf einige wenige bekannte und relativ leicht erreichbare Bergziele. Obwohl mit Yachten, Ski­flugzeugen oder Allradfahrzeugen praktisch fast jeder Punkt der Antarktis bis hin zum Südpol erreichbar ist und trotz der Zunahme des Polartourismus in den letzten zwanzig Jahren wird die Antarktis für die meisten wohl immer ein Traum bleiben. Zu unerforscht das Land, zu hoch die Kosten, zu aufwändig die Bürokratie und Organi­sation. Daher werden die meisten Regionen Antarktikas auch wei­terhin kaum aufgesucht werden, wie zum Beispiel die extrem schwer zugänglichen südlichen Teile des Antarktischen Gebirges, die noch kaum bekannten Gebirge auf Alexander Island oder Pal­mer Land an der Antarktischen Halbinsel, in Marie Byrd Land, in Mac Robertson Land oder auf den subpolaren Inseln.

Als Bergsteiger und Skiläufer ist man in der Antarktis mit extremer UV-Strahlung durch das Ozonloch in der Atmosphäre, katabatischen Fallwinden vom Südpolarplateau und immer wieder beängstigend großen Gletscherspalten konfrontiert. Eine Expedition in die Antarktis braucht somit nicht nur perfekte Ausrüstung, Erfahrung und akribi­sche Vorbereitung, sondern letztlich immer auch eine Portion Glück.

Mein ganz persönliches Ideal einer polaren Bergexpedition ist es, in Kleinstteams mit Ski, Zelt und Pulkaschlitten völlig frei und autark unterwegs zu sein. Für Bergsteiger hat sich die Tür zu einem neuen Zeitalter alpiner Entdeckungsreisen geöffnet. Der Weltklasseklette­rer Leo Holding, Mark Sedon und Jean Burgun demonstrierten 2017 eindrucksvoll den Expeditionsstil moderner Polarexpeditionen: Vom Landepunkt ihres Skiflugzeuges nützten sie für ihre spektakuläre Ex­pedition zum 2020 Meter hohen Spectre im entlegenen Transantarktischen Gebirge Skitourenschuhe, alpine Rennski und Hoch­leistungs-Snowkites, mit denen sie sich und ihre schweren Schlitten buchstäblich in Windeseile übers Eis bewegten.

Autor: Christoph Höbenreich

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