Die subpolare Inselwelt
Nicht mehr unmittelbar auf dem Kontinent der Antarktis, aber innerhalb der antarktischen Konvergenz im Südpolarmeer liegend, dürfen auch die eisgepanzerten Berge der subpolaren South Shetland Islands, South Orkney Islands und natürlich South Georgia Island nicht vergessen werden. Südgeorgien ist nicht nur wegen seiner Vogelwelt und den großen Pinguin-, Robben- und Seeelefanten-Kolonien ein wahres Naturjuwel. Die Allardyce und Salvesen Range bilden das Rückgrat der großteils vergletscherten Insel und bieten sehr abenteuerliches Expeditionsbergsteigen auf schwer zugänglichen und sehr selten bestiegenen Gipfeln wie dem Nordenskjöld Peak (2354 m), Mt. Brooker (1881 m), Mt. Sugartop (2323 m), Mt. Ashley (1145 m) oder Mt. Roots (2281 m). Die ehemalige Walfängerinsel Südgeorgien gehört wie die Falklands zu den britischen Überseeterritorien, ist also zwar nicht Teil des Vereinigten Königreichs, steht aber unter dessen Souveränität und ist reich an britischer Polargeschichte. 1916 durchquerte Ernest Shackleton die Insel auf seiner epochalen Reise zur Rettung seiner in der Antarktis gestrandeten „Endurance“- Mannschaft. Und die Erstbesteigung des Mt. Paget (2935 m), des höchsten Berges der Insel, gelang Mitgliedern der British Combined Services Expedition to the Antarctic am 30. Dezember 1964.
Die Vulkane Marie Byrd Lands und der Ross See Region
Beim verheißungsvoll klingenden Namen Antarktika denkt man vor allem an weite Eisplateaus. Vulkane gehören eher nicht zum üblichen Bild des Kontinents um den Südpol. Am ehesten bekannt dürfte noch der vom Meer weithin sichtbare und bisweilen qualmende Mt. Erebus (3794 m) auf Ross Island im Hinterland von McMurdo sein. Er war nicht nur der erste große Berg, der in der Antarktis bestiegen wurde (bereits 1908), er erlangte leider auch durch das größte Unglück in der Antarktis traurige Bekanntheit: Am 28. November 1979 geriet ein Passagierflugzeug der Air New Zealand auf einem Besichtigungsflug in einen Whiteout und prallte an den Berg; alle 257 Menschen an Bord kamen ums Leben.
Andere antarktische Vulkane wie der Mt. Melbourne (2733 m) im ostantarktischen Victoria Land sind weniger bekannt. An der pazifischen Antarktisküste von Marie Byrd Land erstreckt sich sogar eine über 700 Kilometer lange Kette von 22 wie glänzende Perlen aufgefädelter Vulkane. In ihrer Mitte liegt die 80 Kilometer lange Vulkangruppe der Executive Committee Range mit den höchsten eisbedeckten Vulkangipfeln des Kontinents. Unter diesen wiederum überragt kein anderer den Mt. Sidley. Dessen Höhe – um 4200 Meter – ist allerdings noch nicht einmal genau vermessen. Der komplexe Stratovulkan ist der geologisch jüngste Vulkan der „Perlenkette“ und gilt als erloschen. Aber erst vor wenigen Jahren haben Seismologen mit Schlittenfahrzeugen unter dem Inlandeis in nur 50 Kilometer Entfernung des Mt. Sidley starke seismische Aktivitäten festgestellt und direkt unter dem Vulkan einen Mantelplume, das heißt einen riesigen aufsteigenden Klumpen heißes Magma in fast 100 Kilometer Tiefe entdeckt. Als das einstige Gondwanaland in die heutigen Südkontinente zerfiel, wurde auch der Kontinent Antarktika tektonisch auseinandergerissen. So entstanden in der Westantarktis Grabenbrüche, die dem ostafrikanischen Riftsystem ähneln, aber mehrere tausend Meter dick vom Inlandeis bedeckt sind. Der Bentley-Graben, dessen tiefster Punkt 2500 Meter unter dem Niveau des Meeresspiegels liegt, ist die weltweit tiefste nicht von Ozeanen bedeckte tektonische Depression. An der Oberfläche sind die mächtigen Vulkane sichtbare Zeugen der starken tektonischen Aktivität. Und unter der westantarktischen Eisdecke verborgen hat man weitere 138 Vulkane entdeckt. Bislang unbemerkte Zeitbomben? Der Ausbruch eines subglazialen Vulkans hätte wohl verheerende Folgen.
Der Mt. Sidley wurde erstmals vom US-amerikanischen Polarforscher Admiral Richard Evelyn Byrd während eines Erkundungsfluges 1934 gesichtet. Er gab der buchstäblich herausragenden Erscheinung den Namen von Mabelle Sidley, der Tochter eines Geldgebers seiner Expedition. Zuvor hatte der Admiral schon die gesamte an die Amundsen-See angrenzende Region nach seiner Ehefrau benannt. Marie Byrd Land ist mit einer Fläche von 1,6 Millionen Quadratkilometern drei Mal so groß wie Frankreich und wird selbst für antarktische Verhältnisse sehr selten aufgesucht. Vor seinen Küsten gibt es keinen regelmäßigen Schiffsverkehr, im Landesinneren weder Landepisten noch permanente Forschungsstationen. Marie Byrd Land wird bis heute nicht einmal von irgendeinem Staat territorial beansprucht. Es ist das flächengrößte Niemandsland der Erde! Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass selbst so formschöne und küstennahe Vulkane wie der Mt. Siple (3110 m) kaum Beachtung finden und ein sonniges Schattendasein führen.
Mt. Sidley – der höchste Vulkan Antarktikas
Ein noch isolierteres und erhebenderes Gefühl, „über den Dingen zu stehen“, vermittelt der zwar nicht ganz so hohe, aber dafür völlig frei stehende, höchste Vulkan Antarktikas. Die Karte des US-Geological Survey (1961), die US Air Navigation Chart (1963) und die SCAR Air Operations Planning Map (2016) weisen eine Höhe von 4181 Meter aus, Antarctic Logistics & Expeditions geben 4285 Meter an. Tatsächlich ist der Gipfelkraterrand aber weder exakt vermessen noch markiert. Schön, dass es noch Berge mit solchen Geheimnissen gibt! Fast vollständig vereist, erhebt er sich etwa 2200 Meter über dem schier endlosen westantarktischen Eisplateau Marie Byrd Lands. Außen prägen sanfte, weiße und hellblau schimmernde Eisflanken sein majestätisches Antlitz. Durch eine Laune der Natur zieren bizarr geformte Eispilze aus meterhohem Anraumeis den Gipfelkraterrand wie eine Krone das eisgespickte Haupt des Königs der antarktischen Vulkane. Die hufeisenförmige Kraterinnenseite hat einen Durchmesser von fünf Kilometern und bricht in einer imposanten Steilwand aus bröckeligem Lavagestein und Eis 1200 Meter in die Tiefe ab. Seine Lage nahe dem Südpol, die aufwändige Logistik und seine beinahe völlige Unberührtheit machen den Berg zu einem sehr exklusiven Ziel für abenteuerlustige „Volcanoholics“, die als Sammler der „Volcanic Seven Summits“ den jeweils höchsten Vulkan der sieben Kontinente besteigen. Diese attraktive Sammlung erloschener oder noch aktiver Feuerberge wurde erst 2011 am Gipfel des Mt. Sidley erstmals vom Italiener Mario Trimeri und seither nur von einer kleinen Handvoll Bergsteiger komplettiert. Dass der Mt. Sidley selbst in gut informierten Bergsteigerkreisen noch immer kaum bekannt ist, verwundert kaum, wurde der Gipfelbereich des Vulkans erst am 11. Januar 1990 vom neuseeländischen Polarforscher Bill Atkinson erstmals aufgesucht. 1994 folgten Mitglieder des US-amerikanischen Antarktis Forschungsprogramms USARP. Und erst 2011 gelang dann die erste Besteigung des vormals für private Bergsteiger praktisch unzugänglichen Berges im Zuge einer nicht staatlich organisierten Expedition. Eine Expedition zum Mt. Sidley fordert auch heute noch Pionier- und Entdeckergeist. Hier ist ein Bergsteigerteam noch völlig auf sich gestellt. Im Januar 2017 hatte ich die Ehre, die achte Expedition zu diesem Berg überhaupt zu begleiten und gemeinsam mit der amerikanischen Bergführerkollegin Tre-C Dumais führen zu dürfen – zu einem der entlegensten und am seltensten bestiegenen Berge der Erde.
Der Klimawandel in der Antarktis
Polarreisen liegen im Trend. Der gut und öffentlichkeitswirksam dokumentierte Klimawandel befeuert geradezu den Reiseboom im höchsten Norden und tiefsten Süden. Es scheint fast eine Art Torschlusspanik zu herrschen nach dem Motto: Besuchen Sie die Polargebiete, solange sie noch weiß sind!
Die dramatischen Bilder des abschmelzenden Polareises stammen aus der Arktis, von Rekord- Eisschmelzen in Grönland, vom Schmelzwasser im auftauenden Permafrost-Samenbunker auf Spitzbergen und von einem im Sommer bald eisfreien Nordpol. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Arktis stärker als jede andere Weltregion erwärmt. Man spricht dort von einem Temperaturanstieg von 6 Grad (!) innerhalb der letzten dreißig Jahre. Die Auswirkungen auf das Landschaftsbild im Nordpolargebiet sind unübersehbar.
Aber was ist im Südpolargebiet los? Auch in Teilen der Antarktis sind die Zeichen des Klimawandels sichtbar: Einige kleine Schelfeise an der Antarktischen Halbinsel sind in den vergangenen drei Jahrzehnten zerbrochen. Die winterliche Meereisbedeckung rund um die Antarktis nimmt dagegen seit Jahren kontinuierlich zu. Und in küstennahen Gebieten kommt es zu immer mehr Niederschlag. Auswirkungen der Klimaänderungen in Antarktika sind aber schwer zu messen. Rund um den Südpol sind 14 Millionen Quadratkilometer von Eis bedeckt. Der gefrorene Panzer ist stellenweise über 4500 Meter dick und drückt den Kontinentalschild unter sich ein. Berechnungen gehen davon aus, dass hier 30 Millionen Kubikkilometer Eis vor sich hinschlummern – 90 Prozent des gefrorenen Wassers weltweit. Täuscht der Eindruck, dass das Eis der Ostantarktis, das mit Abstand größte Eisvorkommen der Erde, die „globale“ Klimaerwärmung derzeit verschläft?
Bei einem Langzeitvergleich aktueller Luftaufnahmen mit den Fotografien der Deutschen Antarktischen Expedition von 1939 konnten Karsten Brunk und ich feststellen, dass es in den Bergen von Neuschwabenland in den vergangenen acht Jahrzehnten keine Veränderungen im Landschaftsbild gegeben hat, die auf eine Abnahme der Schnee- oder Eisbedeckung schließen ließe, wie sie sonst in praktisch allen Hochgebirgen der niederen und mittleren Breiten und auch in der Arktis dramatisch zu beobachten ist. Die antarktische Gebirgsvergletscherung hingegen hat sich nicht zurückgebildet. Auch die Flankenvereisung der Berge ist nicht weniger geworden. Im Gegenteil! Namhafte Polarwissenschaftler bestätigen diese Beobachtung. Dr. Georg Delisle von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe in Hannover, die zwei Sommerstationen in der Ostantarktis unterhält, bestätigt: „In den vergangenen 30 Jahren hat es hier keine Hinweise auf markante klimatische Änderungen gegeben.“ Und nach einem Bericht des Wissenschaftlichen Ausschusses für Antarktisforschung ist ein Großteil Antarktikas in den letzten Jahrzehnten nicht dem globalen Trend der Klimaerwärmung gefolgt, sondern hat sich sogar abgekühlt! Eine 2020 im renommierten Wissenschaftsmagazin NATURE publizierte, topaktuelle Studie bestätigt: „Der antarktische Kontinent hat sich in den letzten sieben Jahrzehnten trotz eines monotonen Anstiegs der atmosphärischen Konzentration von Treibhausgasen nicht erwärmt.“
Auch Dr. Heinz Miller vom Alfred Wegener Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven bekräftigt, dass die Ostantarktis ein sehr stabiles Gebilde sei. „Und selbst wenn sich die innere Antarktis erwärmen sollte“, sagt er, „bleibt sie immer noch sehr kalt“. Immerhin werden im Inneren des eiskalten Kontinents teilweise bis zu -80 Grad Celsius gemessen und das Jahresmittel ist in der Ostantarktis mit unter -30 Grad Celsius mehr als frostig. „Wird es dort um ein paar Grad wärmer, schmilzt immer noch nichts“, bringt es der gebürtige Innsbrucker nüchtern auf den Punkt. Eine Erwärmung könnte vielmehr dazu führen, dass es auch in der ansonsten äußerst trockenen Eiswüste sogar vermehrt zu Schneefällen kommt. Und tatsächlich lässt sich durch die Vergleiche der Luftaufnahmen in den Hochgebirgen Neuschwabenlands eindeutig eine Zunahme der Schneeakkumulation und Eisbedeckung feststellen. Von abschmelzenden Gletschern oder Eisflanken ist im Inneren Antarktikas jedenfalls weit und breit keine Spur. Oder anders gesagt: Der Klimawandel lässt die Hochgebirge Antarktikas noch völlig kalt.
Polarlogistik
Wie überall auf der Welt konzentrieren sich die meisten alpinistischen Aktivitäten auch in der Antarktis auf einige wenige bekannte und relativ leicht erreichbare Bergziele. Obwohl mit Yachten, Skiflugzeugen oder Allradfahrzeugen praktisch fast jeder Punkt der Antarktis bis hin zum Südpol erreichbar ist und trotz der Zunahme des Polartourismus in den letzten zwanzig Jahren wird die Antarktis für die meisten wohl immer ein Traum bleiben. Zu unerforscht das Land, zu hoch die Kosten, zu aufwändig die Bürokratie und Organisation. Daher werden die meisten Regionen Antarktikas auch weiterhin kaum aufgesucht werden, wie zum Beispiel die extrem schwer zugänglichen südlichen Teile des Antarktischen Gebirges, die noch kaum bekannten Gebirge auf Alexander Island oder Palmer Land an der Antarktischen Halbinsel, in Marie Byrd Land, in Mac Robertson Land oder auf den subpolaren Inseln.
Als Bergsteiger und Skiläufer ist man in der Antarktis mit extremer UV-Strahlung durch das Ozonloch in der Atmosphäre, katabatischen Fallwinden vom Südpolarplateau und immer wieder beängstigend großen Gletscherspalten konfrontiert. Eine Expedition in die Antarktis braucht somit nicht nur perfekte Ausrüstung, Erfahrung und akribische Vorbereitung, sondern letztlich immer auch eine Portion Glück.
Mein ganz persönliches Ideal einer polaren Bergexpedition ist es, in Kleinstteams mit Ski, Zelt und Pulkaschlitten völlig frei und autark unterwegs zu sein. Für Bergsteiger hat sich die Tür zu einem neuen Zeitalter alpiner Entdeckungsreisen geöffnet. Der Weltklassekletterer Leo Holding, Mark Sedon und Jean Burgun demonstrierten 2017 eindrucksvoll den Expeditionsstil moderner Polarexpeditionen: Vom Landepunkt ihres Skiflugzeuges nützten sie für ihre spektakuläre Expedition zum 2020 Meter hohen Spectre im entlegenen Transantarktischen Gebirge Skitourenschuhe, alpine Rennski und Hochleistungs-Snowkites, mit denen sie sich und ihre schweren Schlitten buchstäblich in Windeseile übers Eis bewegten.
Autor: Christoph Höbenreich
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