1.5°C sind zu hoch: Gedanken aus einem flutzerstörten Tal in Deutschland | Polarjournal
Überflutetes Ahrtal. (Foto: Hochwasser in Ahrweiler-freiwillige Helfer)

Die Flutkatastrophe in Teilen des Westens von Deutschland hat die Bevölkerung und das Land völlig überrascht. Das Ausmass der Überflutungen zeigt sich erst langsam. Doch bereits über 170 Tote und noch unzählige vermisste Personen, tausende von Obdachlosen, zerstörte Infrastrukturen, kaum Trinkwasser, Nahrung, Kommunikation sind das Resultat dieser Katastrophe, die sogar Wissenschaftler überrascht hat. Unsere Gastautorin und Journalistin, Dr. Irene Quaile-Kersken lebt in einer der betroffenen Regionen und ist auch jetzt noch tief schockiert. Doch gleichzeitig macht sie sich Gedanken über die Ursache und Hintergründe und schreibt, um das Geschehene zu verarbeiten und zu verstehen. Ein persönlicher Blog heute, der nicht direkt in die Arktis führt, doch an dessen Anfang die Klimaveränderungen in der Arktis stehen.

Uns geht es gut. Wir freuen uns, dass wir im vom Unwetter betroffenen Rhein-Sieg Kreis oben auf einem Berg wohnen. Aber der Schock sitzt tief. Die Region um uns herum wurde heimgesucht vom stärksten und am längsten andauernden Regen, den ich jemals erlebt habe. Die Zerstörung ist unvorstellbar. Mindestens 170 Menschen sind tot. Und wir leben in Deutschland, in einem der reichsten und am höchsten entwickelten Industrieländer der Welt. Dämme sind geborsten, Häuser eingestürzt, Brücken weggeschwemmt, Eisenbahn- und Autobahnstrecken zerstört. In vielen Gemeinden der Region kein Strom, kein Trinkwasser, kein Internet, kein Mobilfunk. Hubschrauber holten Menschen von den Dächern ihrer überfluteten Häuser. Bekannte hoffen noch, vermisste Familienglieder doch noch lebend anzutreffen.

Eine Freundin fragte mich, wie ich mich fühle, nachdem ich seit Jahrzehnten über den Klimawandel und seine Risiken berichte…

Wenn die Katastrophe die Heimat trifft

Eine weitere Freundin erklärte mir, dies hänge alles mit dem Jetstream und dem Klimawandel zusammen. Ja. Mit der Erwärmung der Arktis. Ja. Die Menschen fangen jetzt an, die Zusammenhänge zu begreifen. Und erzählen das, als wäre es eine große Neuigkeit. Als hätte es die Berichte, Analysen, Sendungen, Filme der letzten 30 oder mehr Jahren – meine Arbeit und die so vieler KollegInnen und WissenschaftlerInnen – nie gegeben. Ich gebe zu: Ich fühle mich in meiner Eitelkeit etwas verletzt. Und das Gefühl, als Umweltjournalistin versagt zu haben, lässt mich nicht los. Die traurige Tatsache ist, dass es Katastrophen in der direkten Umgebung, zu Hause, braucht, um Menschen von den Realitäten und der Gefahren des Klimawandels zu überzeugen.

Wird unsere Gesellschaft dadurch die weitere Verbindung erkennen? Zwischen diesen Zuständen und der Notwendigkeit, umgehend unser Verhalten, unsere Gesellschaft zu verändern?

China wurde dieser Tage vom Starkregen heimgesucht. Kanada und die USA kämpfen gegen extreme Hitze. Sibiriens Wälder brennen. Auch Neuseeland litt unter Extremregen. Eine neue Studie gibt uns nur zehn Jahre, um die Korallenriffe der Welt zu retten. Australiens berühmtes Great Barrier Riff droht seinen Status als Weltnaturerbe zu verlieren – weil die eigene Regierung es nicht schützt, sondern weiter unter Druck setzt. Und das Land setzt weiterhin auf Kohle.

Wir sind nicht vorbereitet

Verzeihen Sie, dass ich hier nicht näher auf die katastrophalen Auswirkungen des Klimawandels eingehe, die Menschen in weniger entwickelten Teilen der Welt bereits Haus und Heim – und Leben kosten.  Diese Menschenleben sind mir nicht weniger wert, als die Menschen die letzte Woche ein paar Kilometer von hier im Ahrtal im Schlaf ertrunken sind. Es geht mir hier aber darum, dass wir verheerende Klimafolgen in Regionen sehen, die das Geld, die Ressourcen, die Technologien haben, die ein Maximum an Schutz bieten sollten. Und es sind die Länder, die für den Treibhausgasaustoß verantwortlich sind, der zu den Wetterextremen und der Zerstörung geführt hat. Das Ganze zeigt die Ausmaße unserer Verletzlichkeit – und die Notwendigkeit, zu handeln – hier bei uns, und jetzt.

Wie einem geleakten Entwurf des neuesten Berichts des Weltklimarats zu entnehmen ist: „Das Schlimmste kommt erst noch“.

Hier in Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht im April ein wegweisendes Urteil  verfasst, das die Regierung verpflichtet, ihr Klimaschutzgesetz von 2019 nachzubessern, um die Freiheitsrechte jüngerer Generationen zu schützen.

Mit der im Klimaschutzgesetz geregelten Reduktion von CO2-Emissionen könne das der Temperaturschwelle von 1.5 °C entsprechende „CO2-Restbudget“ nicht eingehalten werden“ – so die Mitteilung des Bundesverfassungsgerichts. Die im Klimagesetz vorgesehene Reduzierung des Treibhausgasaustosses von mindestens 55% bis 2030 sei nicht ausreichend und verletzte im Grundgesetz verbürgte Freiheiten, befand das Gericht. Außerdem fehlten hinreichende Maßgaben für die weitere Emissionsreduktion ab dem Jahr 2031.

Die regierende Koalition in Berlin überschlug sich in ihren Bemühungen, das Gesetz möglichst rasch im Sinne des Gerichts zu verändern. Schließlich finden im September die Bundestagswahlen statt. Das Thema „Klima“ steht weit oben auf der Agenda – und die Grünen haben zum ersten Mal eine eigene Kanzlerkandidatin aufgestellt.

Die Europäische Union hat letzte Woche ein Klimapaket präsentiert, mit dem sie bis 2030 die Treibhausgasemissionen aus der EU um 55 Prozent senken will. Klimaökonom Ottmar Edenhofer, Direktor des Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, sagte zu den „Fit for 55″-Maßnahmen:

„Das ist ein großer Wurf – da gibt es kein Zurück mehr. Das Politikpaket der EU für die Stabilisierung unseres Klimas ist das bislang umfassendste seiner Art, und es knüpft an vieles an, was die Forschung entwickelt hat (…) Wetterextreme weltweit sprechen eine deutliche Sprache: Nur mit entschlossenem Handeln können wir die Kosten und Risiken noch begrenzen, für eine sichere Zukunft für alle.“

Laut einer gerade veröffentlichten Studie der britischen Newcastle University wird es durch den Klimawandel lang anhaltende Starkregenereignisse, wie wir sie gerade in Deutschland und anderen Teilen Europas erleben, in den kommenden Jahren wesentlich häufiger geben.

Das Hauptproblem beim Politikpaket der EU: Die Implementierung wird viel zu lange dauern, angesichts des Ausmaßes der Klimafolgen bis heute.

Kipppunkte im Teufelskreis

Wir reden viel über Klimakipppunkte. Ich frage mich, ob “Kipppunkte” ein irreführender Begriff sein könnte. Sind wir nicht bereits in einen Teufelskreis gekippt? Klimafolgen, Triggerpunkte, weitere Auswirkungen… Das Extremwetter rund um den Globus, die noch nie dagewesenen Starkregenereignisse in diesem Teil der Erde passieren im Endeffekt, weil wir viel zu viel CO2 in die Atmosphäre gepustet haben. Ich war immer – und bin es noch – skeptisch gegenüber CDR – Carbon Dioxide Removal – Maßnahmen, um CO2 aus der Atmosphäre zu ziehen. Unter den jetzigen Bedingungen komme ich aber zu dem Schluss, dass wir wahrscheinlich keine Wahl haben. Wir müssen unseren Treibhausgasaustoss möglichst umgehend drastisch senken. Aber das wird nicht reichen. Wir sind schon zu weit gegangen.

Warum meine Skepsis gegenüber Maßnahmen, mit denen der Mensch sich in die Natur einmischen würde? Erstens wissen wir nicht, welche „Nebenwirkungen“ und unvorhersehbaren Konsequenzen der Einsatz von Technologien haben könnte, wenn wir sie vorher nicht ausreichend getestet haben. Es waren unsere (unbeabsichtigten) Eingriffe in die Wirkungen der Erdmechanismen, die uns an diesen gefährlichen Punkt gebracht haben. Sollten wir mit technischen Mitteln Treibhausgase aus der Atmosphäre ziehen, müssen wir immer noch Orte und Wege finden, sie absolut sicher aufzubewahren. Zweitens könnte der Einsatz solcher Technologien einigen als Ausrede dienen, um fossile Brennstoffe weiter zu nutzen. Das darf nicht passieren.

Im Frühjahr nahm ich auf Einladung der Permafrost Carbon Feedback Action Group an einer Serie von Dialogveranstaltungen teil. Es ging unter anderem darum, ob man das Abtauen des Permafrosts in der Arktis durch technische Maßnahmen aufhalten könnte. Es nahmen renommierte Akademiker, Politiker, Investoren und Klimaaktivisten teil.

Auf Handeln eingestellt

In der letzten Veranstaltung fasste John Holdren, Professor für Umweltpolitik an der Harvard Kennedy School of Government und ehemaliger Chefberater der Obama-Regierung die Situation so zusammen: “Wir wissen bereits genug, um zu wissen, was zu tun ist. Wir wissen kategorisch, dass die Menschheit einen Erwärmungstrend des Planeten ausgelöst hat, der eine dringende globale Kampagne der Dekarbonisierung verlangt. Wir müssen ganz einfach loslegen“ (Meine Übersetzung aus dem Amerikanischen).

Merritt Turetsky, Leiterin des Institute for Arctic and Alpine Research at the University of Colorado, bekräftigte: “Unsere beste Chance, den Permafrost zu erhalten, oder den Kohlenstoff im Permafrost im Boden zu halten und nicht in die Atmosphäre entweichen zu lassen, ist die Dekarbonisierung – Punkt.”

Ich stimme Frau Dr. Turetsky zu. Ich teile auch ihre Einstellung, dass wir nicht erst abwarten und weitere Informationen einholen sollten, sondern sofort handeln müssen, um das Klima zu schützen.

Ich teile auch ihre Insistenz, dass der Einsatz von natürlichen oder technischen Maßnahmen, um CO2 aus der Atmosphäre zu ziehen, auf keinen Fall von der Notwendigkeit schneller und drastischer Emissionsreduktionen  ablenken soll.

Die schlechteste Option für die Permafrostexpertin wäre „sich auf Technologien zur Entziehung und Speicherung von CO2 zu fokussieren, die es noch nicht in einer sinnvollen Größenordnung gibt.

Wenn das heißt, wir sollen uns nicht ausschließlich auf solche Technologien konzentrieren und verlassen, stimme ich ihr zu. Angesichts der extremen Klimafolgen, die wir in den letzten Monaten in den unterschiedlichsten Erdteilen erleben, frage ich mich aber, ob wir die Größenordnung solcher Maßnahmen nicht möglichst bald erhöhen sollten. „Entweder oder“ wird uns nicht weiter bringen.

Können wir die Hitze herunter drehen?

Wir müssen endlich annehmen und umsetzen, was der Weltklimarat in ihren neuesten Berichten schreibt. Schließlich sind das die Wissenschaftler, denen wir die Analyse des Zustands und der Zukunftsaussichten unseres Klimas anvertraut haben. Im  Bericht über die Einhaltung des 1.5-Grad-Ziels steht schwarz auf weiß, dass neben unersetzliche Maßnahmen wie eine Energiewende und die Reduzierung von Emissionen aus der Landwirtschaft, einige Formen von CDR – Carbon Dioxide Removal – nötig sein werden. Das heißt: das Zuviel an CO2 muss der Luft entzogen und sicher gespeichert werden.

Die Wissenschaftler schreiben auch, dass Technologien, um CO2 aus der Luft zu entfernen, sich noch in der Entwicklung und Erprobung befinden. Sich darauf zu verlassen, sei ein großer Risikofaktor bei der Einhaltung des 1.5°C-Ziels. Je mehr es uns gelingt, die Energieeffizienz zu steigern und die Energienachfrage zu senken, desto weniger müssen wir uns auf solche Techniken verlassen, heißt es dort.

Im Bericht des Weltklimarats wird der Entzug von CO2 aus der Luft als eine Art Notmaßnahme dargestellt für den Fall, dass wir die Erderwärmung nicht auf 1.5°C begrenzen können. Mit den aktuellen Wetterextremen rund um den Globus erleben wir aber jetzt schon katastrophale Bedingungen.

Wir müssen nicht erst in der Zukunft darüber nachdenken, CO2 der Luft zu entziehen.

Aus dem Gleichgewicht

Der Status quo kostet Menschenleben, zerstört Ökosysteme und bringt die Mechanismen unseres Planeten aus dem Gleichgewicht. Wir schulden es dem Leben auf der Erde, einiges wieder gut zumachen, die von uns verursachten Schäden zu beheben.

Auch das World Resources Institute hält neben erneuerbaren Energien, Energieeffizienz, Waldschutz und Aufforstung aktive Strategien, um CO2 der Atmosphäre zu entziehen für unabdingbar und nennt Zahlen: Circa 10 Gt CO2 pro Jahr bis 2050 und 20 Gt CO2 pro Jahr bis 2100.

Das Institut erwähnt sowohl natürliche Strategien, wie Aufforstung und Veränderungen in der Landwirtschaft als auch technische Optionen wie CO2-Abscheidung und Speicherung oder die Mineralisierung, ein Prozess, bei dem das Kohlendioxid im Gestein gespeichert wird. Dazu kämen sogenannte Hybridstrategien, die natürliche Maßnahmen wie Bioenergie mit CO2-Abscheidung und Speicherung verbinden, sowie Maßnahmen im Meer.

“Wer die Hitze nicht verträgt…“

Die Erdtemperatur ist seit Anfang der Industrialisierung bereits um fast 1,2°C gestiegen. Die Lage gerät heute schon außer Kontrolle. Wir sind bereits viel zu weit gegangen. Es gibt Experten, die die Einhaltung des 1,5°C Ziels noch für erreichbar halten, wenn unsere Regierungen, Verwaltungen – und schlussendlich die ganze Gesellschaft – unsere Art zu leben, zu essen, zu heizen, zu verschmutzen, zu konsumieren – von Grund auf verändern. Das gilt vor allem für uns in der entwickelten, industrialisierten Welt.

Wir steuern aber zurzeit eher auf eine Welt zu, die sich bis Ende des Jahrhunderts um drei bis vier Grad erwärmen wird. Es wird zunehmend klar, dass auch das 1,5°C-Ziel nicht nur außer Reichweite gerät, sondern auch noch zu hoch angesetzt ist. Wir dürfen nicht in diesem Tempo weiter machen und es der nächsten Generation überlassen, drastische Methoden auszuprobieren, wenn wir die 1,5°C erst überstiegen haben.

Ich berichte seit 30 Jahren oder mehr über den Klimawandel. Die dramatischen Überflutungen und ihre Auswirkungen in meiner direkten Umgebung in der letzten Woche haben mich zutiefst geschockt und bewegt. Es bringt nichts zu schelten: „Ich habe es Euch ja gesagt“. Wir müssen jetzt handeln und mehr tun als je zuvor. Lasst uns die Gummistiefel und Schaufel herausholen, um das Überflutungschaos zu beseitigen. Lasst uns die Infrastruktur wieder aufbauen, und zwar so, dass sie Veränderungen, die wir nicht mehr aufhalten können, aushält. Lasst uns die Frühwarnsysteme verbessern – die Klimaschutzmaßnahmen beschleunigen. Es gibt einen Spruch bei uns, „wenn Du die Hitze nicht verträgst, gehe heraus aus der Küche.“ Was, aber, wenn der ganze Planet zur Küche geworden ist? Höchste Zeit, um die Hitze zu reduzieren.

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