2, 2.5, 3 Grad oder mehr – bietet 2023 eine “letzte Chance” für das Klima? | Polarjournal
War es früher wirklich immer so im Winter? Bild: Michael Wenger

Ich blicke auf eine glitzernde weiße Landschaft, schillernde, vereiste Bäume, einen atemberaubend blauen Winterhimmel in einem seltenen weißen Dezember hier im milden Rheinland in Westdeutschland. Eine willkommene, der Jahreszeit entsprechende Kaltzeit nach einem heißen – und viel zu trockenen – Sommer. Es wäre allzu leicht, sich der Illusion hinzugeben, dass alles so ist, wie es immer war – oder zumindest so, wie es in unserer Erinnerung war. Als sich die Jahreszeiten noch an ihre traditionellen Temperaturen festhielten und der Winter in unserem Teil der Erde kalt und frostig war. Und als der Klimawandel noch kein alltägliches Gesprächsthema war – und keine Krise, die unsere Zukunft bedrohte.

Wenn es nur so wäre. Die Menschen im hohen Norden unseres Planeten werden in diesem Winter andere Gedanken haben. Anfang Dezember erreichte die Temperatur in Utqiagvik, der nördlichsten Gemeinde Alaskas (ehemals Barrow), 4,4 Grad Celsius. Laut Rick Thoman, Klimaspezialist am International Arctic Research Center der University of Alaska Fairbanks, ist dies die wärmste Temperatur, die in dieser Region zwischen Ende Oktober bis Ende April gemessen wurde.

Auch Grönland erlebte im Dezember sommerliche Temperaturen. Diese „verrückten“ Temperaturen sind tatsächlich die Weiterführung eines Trends:

Der neueste Arctic Report Card, ein Bericht über den Zustand der Arktis, der jedes Jahr um diese Zeit von der US-amerikanischen Wetterbehörde NOAA vorgelegt wird, bestätigt, dass diese Transformation der eisigen nördlichen Regionen zum neuen „Normalzustand“ wird.

„Veränderungen der Jahreszeiten, klimatisch bedingte Phänomene wie Waldbrände, Extremwetter sowie eine ungewöhnliche Sterberate bei wilden Tieren werden zunehmend schwer einzuordnen, vor dem Hintergrund dessen, was bisher als normal galt”, so die Experten. (Übersetzung aus dem Englischen)

Der Bericht vergleicht den aktuellen Zustand unterschiedlicher Teile des Umweltsystems in der Arktis mit historischen Daten.

Der ganze Planet erwärmt sich

Klimaexperte Zeke Hausfather kommt im neuesten Quartalsbericht zum Zustand des Klimasvon  Carbon Brief zu dem Schluss, dass 2022 zu den sechs wärmsten Jahren seit Anfang der Messungen gehören wird.   Es sei ein Jahr der Extreme gewesen, mit Rekordhitzewellen und katastrophalen Überflutungen. Die hohe globale Durchschnittstemperatur für 2022 wurde trotz der La Nina-Bedingungen erreicht, die die globale Temperatur eigentlich sinken lassen.

Selbst wenn 2022 keinen neuen Rekord aufstellt  gehört es zu den wärmsten Jahren seit den späten 1800er Jahren, so Hausfather. Dies sei im Rahmen der Vorhersagen von Klimamodellen und im Einklang mit dem langfristigen Erwärmungstrend der letzten 50 Jahren.

Die Treibhausgaskonzentration erreichte 2022 einen neuen Höchststand, höher als in den letzten mehreren Millionen Jahren oder sogar länger, so Carbon Brief.

Viele Teile Westeuropas, große Teile Chinas,  Iran, Afghanistan, Pakistan, Nepal sowie die Antarktische Halbinsel erlebten zwischen Januar und Oktober die höchsten jemals registrierten Temperaturen. Pakistan wurde gleichzeitig von katastrophalen Überflutungen heimgesucht, so Hausfather.

Das Meereis der Antarktis erreichte einen neuen Tiefstand, sowohl im Frühjahr als auch im Sommer. In der Arktis gehörte die Eisausdehnung – und Eisdicke zu den niedrigen historischen gemessenen Zahlen.

COP27 – noch eine Konferenz, die die Welt nicht rettete

Trotz der zunehmend spürbaren Dringlichkeit einer Verminderung der Emissionen brachte die diesjährige UN-Klimakonferenz im ägyptischen Sharm el-Sheikh wenig Fortschritte.

Es gab ein bedeutendes – und längst überflüssiges – Ergebnis. Es wird ein Fonds für die besonders bedrohten Länder dieser Erde gegründet, um „Schäden und Verluste“ (Loss & Damage) durch den Klimawandel zu  kompensieren. Wie der Fonds genau aussieht, wird allerdings erst auf der nächsten COP28 in Dubai verhandelt.

Es war die erste UN-Klimakonferenz nach der Veröffentlichung drei neuer Berichte des Weltklimarats. Aber trotz der darin betonten dringenden Notwendigkeit sofortiger Klimamaßnahmen wurden keine nennenswerten Fortschritte in diese Richtung gemacht.

Auf der Konferenz sollte die Umsetzung des Pariser Abkommens verhandelt werden. Die Delegierten konnten aber kaum mehr erreichen, um die 1,5-Grad-Grenze zu halten, als das, was vor einem Jahr auf COP26 in Glasgow bereits ausgehandelt wurde.

Dr. Oliver Geden von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), sagte im Gespräch mit Journalisten: “Beim Thema Klimaschutz/Emissionsminderungen ist so gut wie nichts vorangekommen (…) Da die globalen Emissionen immer noch nicht sinken, wird sich ein Überschreiten der 1,5-Grad-Marke kaum noch vermeiden lassen“.

Zu den wichtigsten Versprechen des Pariser Abkommens gehörte eine globale Bestandsaufnahme alle fünf Jahre, die zu einem Schließen der Ambitionslücke zwischen nationalen und globalen Klimazielen führt.

„Das wird sich auf absehbare Zeit nicht einlösen lassen, auch weil die Lücke schon enorm groß ist, und die globalen Emissionen bis 2030 um 25 beziehungsweise 45 Prozent – für deutlich unter 2 Grad beziehungsweise 1,5 Grad – sinken müssten“, so Geden.

2020 hatten die teilnehmenden Länder nach schweren Verhandlungen vereinbart, das Verbrennen von Kohle zu reduzieren. Die Schlusserklärung von Sharm el-Sheik ging nicht darüber hinaus. Die neuesten Zahlen der Internationalen Energieagentur (IEA) zeigen, dass 2022 tatsächlich mehr Kohle verbrannt wurde, als jemals zuvor.

Man kann es sich kaum vorstellen, aber die Schlusserklärung von Sharm el-Sheikh erwähnte nicht mal die Absicht, die Verwendung von fossilen Brennstoffen herunterzufahren.

„Das 1,5-Grad-Limit bleibt weiter auf der Intensivstation bei sich verschlechterndem Zustand (…) Mit Blick auf das 1,5-Grad-Limit wurde ein ganzes Jahr vertrödelt“, so Professor Niklas Höhne, Leiter des in Köln ansässigen New Climate Institute.

„Im Schatten der Energiekrise ist es aber völlig ausgeblieben, in den Notfallmodus umzuschalten. Man hat sich nicht mal auf das Offensichtliche einigen können: Dass alle fossilen Energien heruntergefahren werden müssen, nicht nur Kohle.“

Höhne kritisiert die große Unterstützung für neue Gasinfrastrukturen. „Damit wird es jetzt deutlich schwerer, globale Treibhausgasemissionen bis 2030 zu halbieren“.

„Dabei zählt gerade mit Blick auf die verletzlichsten Staaten der Welt – aber auch zur Eingrenzung der Zunahme von Anzahl und Intensität der Wetterextreme bei uns – jedes Zehntel Grad”, sagte Professor Manfred Fischedick, Präsident des Wuppertal Instituts.

Bereits unerreichbar? Demonstranten in Bonn fordern das 1.5°C-Limit (Foto: I. Quaile)

Gibt es auch gute Nachrichten?

Es fällt mir schwer, unter den jetzigen Umständen optimistisch zu bleiben. Es bleibt zu hoffen, dass das Wiederaufleben der fossilen Energien nur kurzfristig sein wird. Es stellt sich aber die Frage, wie groß die dadurch verursachten Klimaschäden sein werden, bis erneuerbare Quellen soweit etabliert sind, dass sie unseren Hunger nach Energie stillen können.

Die IEA liefert allerdings eine positivere Einschätzung in ihrem neuesten Jahresbericht zum Zustand der erneuerbaren Energien. Laut der Analyse beschleunigt die globale Energiekrise den Ausbau der erneuerbaren Energie, vor allem in der EU, in den USA, in China und in Indien.

Die IEA hat ihre Wachstumsprognose für erneuerbare Energiequellen im Vergleich mit dem letzen Jahr um fast 30 Prozent erhöht. Das sei ein Anstieg von 76 Prozent seit 2020, so eine Analyse von Carbon Brief.

Die Energieagentur geht davon aus, das erneuerbare Energiequellen bereits Anfang 2025 die Kohle als weltgrößte Quelle für die Erzeugung von Strom überholen werde. Allerdings ist die Welt immer noch nicht auf einem Pfad, der zu einem Netto-Null-Emissionssystem bis 2050 führen wird.

Nach der neuesten Analyse von Climate Action Tracker ist nur Gambia auf einem Weg, der die Einhaltung der 1.5-Grad-Grenze einhalten wird. Keiner der großen Emittenten hat die notwendigen Schritte in Vorbereitung.

Es ist allerdings nicht so, dass es überhaupt keine guten Klimanachrichten gäbe.

So hat beispielsweise die EU eine Abgabe für importierte Produkte wie Zement, Eisen und Stahl, Aluminium, Düngemittel sowie Strom und Wasserstoff, bei deren Produktion im Ausland Kohlendioxid (CO2) entstanden ist beschlossen. Das soll europäischen Industrien bei der Dekarbonisierung unterstützen.

Energieexperte Assaad Razzouk sammelt regelmäßig Nachrichten über positive Klimaentwicklungen:

Noch können wir die Klimakatastrophe verhindern

Wir haben die Möglichkeit, uns von fossilen Brennstoffen zu verabschieden und unsere Gesellschaften zu dekarbonisieren.

Die Weltnaturkonferenz COP15 im Dezember in Montreal verabschiedete ein „historisches“ Artenschutzabkommen. Demnach sollen 30 Prozent der Land- und Meeresfläche der Erde bis 2030 zu Schutzgebieten erklärt werden. Umweltverbände äußerten sich optimistisch – hoben allerdings Schwachstellen des Vertrages hervor. Mich persönlich stört es, wenn das Ergebnis als „Pariser Abkommen für die Artenvielfalt“ beschrieben wird. Die Pariser Vereinbarung war in der Tat bahnbrechend. Aber auch das beste Abkommen nützt nichts, wenn es nicht umgesetzt wird.

Wir müssen unseren Lebensstil und unser Wirtschaftssystem radikal verändern, um das Klima und die Artenvielfalt, die ineinander verwoben sind, zu schützen. In einer im Dezember in Nature veröffentlichten Studie argumentieren Jason Hickel, Giorgos Kallis, Diana Urge-Vorsatz, Julia Steinberger und weitere Autoren für ‚Degrowth‘oder Postwachstum.

Die diesjährigen Berichte vom Weltklimarat IPCC sowie vom Weltbiodiversitätsrat IPBES legten einen solchen Ansatz nahe, so die Autoren, um sowohl den Klimawandel als auch den Biodiversitätsverlust anzugehen. Sie nennen fossile Brennstoffe, industriell produziertes Fleisch und Milchprodukte, “Fast fashion”, die Werbeindustrie, Autos sowie den Flugverkehr als destruktive Branchen, die heruntergefahren werden sollten. Produkte sollten langlebiger werden.

Nach der Meinung der Autoren geht es nicht mehr um die Grenzen des Wachstums, sonder darum, es zukünftigen Gesellschaften zu ermöglichen, ohne Wachstum zu gedeihen, um die Zukunft fair und ökologisch zu gestalten.

Zeke Hausfather, Klima- und Energieexperte, den ich oben bereits zitierte, sagte in einem Interview mit Foresight, es gehe nicht um ein „entweder-oder“ zwischen einer Zukunft, in der das 1,5-Grad-Limit eingehalten werde oder einer apokalyptischen Hölle. (Meine Übersetzung aus dem Englischen). Beim Klimawandel gehe es um schrittweise Veränderungen. Das Wichtigste, was wir tun können, sei so schnell wie möglich zu handeln, um die Emissionen zu reduzieren.

Wir sollten mehr Zeit investieren, um zu diskutieren, wie sich Menschen in den Prozess einbringen können, so Hausfather. Dabei gehe es ihm nicht nur um Elektroautos oder alternative Ernährungsformen. Wichtig sei das Wahlverhalten, politisches Handeln, Kontaktaufnahme zu Entscheidungsträgern sowie die Teilnahme an Strassenprotesten.

Berlin, Messedamm: Aktivisten blockieren eine Straße (Foto: Last Generation)

Hier in Deutschland hat in den letzten Wochen die Aktivistengruppe “Last Generation” große Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Sie klebten sich beispielweise an Straßen und Flughafenrollbahnen fest. Mit zivilem Ungehorsam wollen sie die Regierungen zu stärkerem Klimaschutz bewegen und „die notwendige Umkehr bewirken“. Sie ernten viel Kritik – und strenge Strafen. Ihr Motto:

„Wir sind die Letzte Generation, die den Kollaps unserer Gesellschaft noch aufhalten kann. Dieser Realität ins Auge blickend, nehmen wir hohe Gebühren, Straftatvorwürfe und Freiheitsentzug unerschrocken hin“.

Auf der Website der Gruppe Fridays for Future heißt es:

„Die Klimakrise ist eine reale Bedrohung für die menschliche Zivilisation – die Bewältigung der Klimakrise ist die Hauptaufgabe des 21. Jahrhunderts.“

Nun ist nicht jeder bereit, sich irgendwo festzukleben oder eine Gefängnisstrafe auf sich zu nehmen. Aber wir können alle auf unsere Weise aktiv werden, um den Planeten und zukünftige Generationen zu schützen. Ich überlasse der letzten Generation das letzte Wort:

„Wenn wir uns zusammentun, sind wir eine gewaltige Kraft. Vergesst nicht, es geht um unser Handeln, unseren Planeten und unser Erbe.“

Link zum Blog von Dr. Irene Quaile-Kersken:

Aktueller Blog: https://iceblog.org

Älterer Blog: https://blogs.dw.com/ice/ 

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