Die Geschichte liebt Sieger. Nur an sie erinnert man sich, schon der Zweite gerät gern in Vergessenheit. (Probe aufs Exempel: Fällt Ihnen der Name des zweiten Astronauten auf dem Mond ein? – Eben!) Einem meiner Lieblings-Verlierer möchte ich hier gedenken, ist er in meinen Augen doch ein moralischer Gewinner.
Der Brite Robert Falcon Scott. Im kollektiven Gedächtnis ist das der Mann, der im Wettlauf zum Südpol vom Norweger Roald Amundsen geschlagen wurde. Der Gewinner schaffte das bis dahin Menschenunmögliche Dank seines kühlen Pragmatismus und präzisen Rechnens. Die Romantikerin in mir aber vergisst bei aller Anerkennung dieser Leistung nur ungern, dass Amundsen für den Weg zum Pol und zurück einen akribischen Plan aufstellte, wann wie viele der Schlittenhunde geschlachtet und an deren vierbeinigen Weggefährten verfüttert werden mussten.
Meiner heillos romantischen Seele liegt da der Bücherwurm, Tierfreund und Gentleman Scott viel näher. Das Basislager Cape Evans, wo Scott und seine 24 Gefährten den Winter 1911 verbrachten, muss ein überaus kultivierter Ort gewesen sein: Aus einem Grammophon sang Caruso Arien, als Lektüre standen zeitgenössische russische Romane, Tennysons Gedichte sowie die Gesamtausgabe der Encyclopedia Britannica zur Auswahl. Den ganzen Winter über hielten sich die Männer gegenseitig Vorträge zu erbaulichen Themen wie japanische Druckgrafik, Napoleons Feldzüge und Parasitenbefall bei Fischen. Als sässen sie in einem behaglichen Club im piekfeinen Londoner West End und nicht in lichtloser Polarnacht am Ende der Welt. Als sie sich im Frühjahr aufmachten, zum Ruhm von König und Vaterland als erste Menschen den Südpol zu erreichen, zogen sie ihre Schlitten über weite Strecken selber. Auf ihrem Rückweg (sie hatten erfahren, dass Amundsen vor ihnen das Ziel erreicht hatte) schleppten Scott und seine zwei verbliebenen Begleiter 23 Kilo Gestein mit und allerlei Fundstücke, die für die Wissenschaftler daheim in ihren Studierstuben gedacht waren. Dieses Übergepäck fand man Monate später bei den drei tiefgefrorenen Leichen. Ebenso die Abschiedsbriefe Scotts an sein Vaterland und an seine Frau. Ihr galt sein letzter Tagebucheintrag und Gedanken: «Schickt das Tagebuch meiner Frau» und «Sorgt für unsere Familien.»
Edward Wilson – Mitglied der «Verlierer-Truppe»
Ein weiteres wunderbares Beispiel von Heldentum und stilvollem Scheitern bietet Edward Wilson, einer von Scotts Begleitern auf dessen ersten Antarktis-Expedition. Wilson stand in dunkler Winternacht jeden Morgen um fünf Uhr auf, um ein verwaistes Kaiserpinguin-Küken zu füttern, das er am Rande der Grossen Eisbarriere gefunden hatte. Seine Tierliebe ging gar soweit, dass er dem Vögelchen seine morgendliche Ration Robbenfleisch vorkaute, wie das seine gefiederten Eltern auch getan hätten.
Sir John Franklin – Verlierer in Extremis
Und Sir John Franklin, ein früherer Landsmann Scotts: Er liess sein Leben auf dem abenteuerlichen Trip in der Arktis. Doch er starb, wie er lebte: als formvollendeter Gentleman. Er und seine 129 Begleiter erkrankten oder starben an Skorbut und vor Hunger. Das ist zwar weniger heldenhaft als erstaunlich, ernährte doch der Landstrich in der kanadischen Arktis mit seinem reichen Fisch- und Wildbestand seit Menschengedenken grosse Zahlen von Inuit. Doch noch viel erstaunlicher ist das Reisegepäck der wackeren Eroberer, dass man später bei den Leichen fand. Die Männer hatten ihre Gewehre an Bord gelassen und statt lebenswichtiger Waffen und Ausrüstung Dinge mitgeschleppt, wie bestenfalls Angehörige des britischen Landadels für ein sommerliches Picknick im Grünen benötigten: Silberbesteck mit Monogramm, eine Kiste Zigarren, ein edles Backgammon-Spiel, eine Kleiderbürste, eine Büchse Knopfpolitur und ein gewichtiges kirchliches Standart-Werk. Mögen Scott und die anderen Verlierer den Wettlauf zum Pol auch verloren haben – die Herzen aller Romantiker und Frauen haben sie gewonnen.
Greta Paulsdottir