Polarhasen scheinen wanderfreudiger zu sein als vermutet | Polarjournal
Polarhasen sind in der kanadischen Arktis und in Grönland verbreitetet, während Alaska und die eurasische Arktis andere Arten von Hasen aufweisen. Die Pflanzenfresser werden bis zu 5 Kilo schwer, 80 Zentimeter lang und ihre Ohren bis zu 10 Zentimeter hoch. Sie leben in lockeren Gruppen und galten bisher als wenig mobil. Bild: Michael Wenger

Viele Tierarten in der Arktis sind sehr mobil und legen grosse Distanzen zurück. Meistens unternehmen sie diese Wanderungen aufgrund der Nahrungssuche. Bisher zählte man zu den wanderfreudigsten Arten unter anderem den Eisbären, Polarfüchse, Rentiere und Moschusochsen. Doch nun könnte eine weitere prominente Art hinzugefügt werden: Polarhasen. Denn bei einer Studie kanadischer Wissenschaftler über die Bewegungen der Tiere kam Erstaunliches heraus.

Die Studie von Dr. Sandra Lai und Émilie Desjardin von der Université due Québec a Rimouski (UQAR) zeigte, dass die von ihnen untersuchte Population von Polarhasen im Norden der Insel Ellesmere viel weitere Distanzen im Sommer zurücklegen als bisher angenommen. Ein weibliches Tier, von den wegen ihres Farbcodes BBYY (blue blue yellow yellow) genannt, stellte dabei einen neuen Rekord auf: innert 49 Tagen wanderte die Häsin satte 388 Kilometer weit ins Inselinnere hinein und wieder zurück. Dies ist die bisher längste bekannte Strecke eines Polarhasen und rückt das bisherige Wissen über das Wanderverhalten der Tiere in ein neues Licht. «Als ich begann, Polarhasen zu untersuchen, erwartete ich kaum Bewegungen der Tiere. Und jetzt haben wir eine potentiell wandernde Population.» erklärt Dr. Sandra Lai, Hauptautorin der Arbeit, die in der Fachzeitschrift Ecology veröffentlicht wurde.

Für die Studie besenderten die Forscherinnen und Forscher insgesamt 25 Polarhasen rund um die kanadische Militärstation Alert, der nördlichste dauerhaft besiedelte Ort der Welt, auf der Insel Ellesmere Island. Gemäss des Forschungsteams war es das Ziel der Arbeit, mehr über die potentielle Verbreitung von Polarhasen zu erfahren. Denn über die bis zu 5 Kilo schweren und 80 Zentimeter grossen Hasen (die nicht zu den Nagetieren gehören) weiss die Forschung immer noch sehr wenig. Bisher ging man davon aus, dass die Tiere, die in lockeren Rudeln («herds») leben, sich nur rund 1 bis 35 Kilometer weit von ihren Bauen entfernen würden. Umso überraschender waren die Ergebnisse der Studie: Dreiviertel der mit Satellitensendern versehenen Hasen wanderten zwischen 113 und 310 Kilometer und eine Häsin, eben BBYY, sogar 388 Kilometer, wie das Team in ihrer Arbeit schreibt. BBYY zog von Alert bis zum Lake Hazen, dem grössten Süsswassersee über dem nördlichen Polarkreis, und wieder etwas zurück, um dann im November auf etwa halbem Weg sich niederzulassen. Anfang Dezember dann starb die Häsin aus ungeklärten Umständen.

Polarhasen leben in der kanadischen und grönländischen Arktis. Während Tiere im nördlichsten Teil das ganze Jahr über weiss bleiben, ändern südlicher lebende Tiere ihre Fellfarbe im Sommer zu braun. Als Fressfeinde gelten vor allem Wölfe. Polarfüchse sind nur für Jungtiere eine Gefahr. Bild: Michael Wenger

Einen weiteren Hinweis, dass die Tiere nicht so standorttreu sind, wie bisher angenommen, zeigt sich daran, dass von den im Sommer 2018 mit Farbmarkern versehenen 28 Tieren ein Jahr später nur noch gerade zwei in der Nähe von Alert wiederentdeckt worden sind. Darunter war auch die Rekordhalterin BBYY. Das Forschungsteam ist zwar von den Resultaten der Studie begeistert, hat jedoch noch keine ausreichende Erklärung für das ungewöhnliche Verhalten der Polarhasen. Es stellt sich zum einen die Frage, ob es sich um eine lokale Anpassung der Hasen von Ellesmere Island handelt oder doch weiterverbreitet ist. Zum anderen werfen die Resultate auch die Frage auf, ob die Tiere echten Wanderrouten folgen, die bisher noch nicht entdeckt worden sind, oder opportunistische Nomaden auf der Suche nach Nahrung sind. Denn gerade in den Weiten der Hocharktis sind geeignete Nahrungsplätze ungleich verteilt. Die Region um Alert stellt nach Angaben der Forscher eine kleine Oase dar, die aber auch Nahrungskonkurrenten wie Moschusochsen und Fressfeinde wie Wölfe anlockt. Darum wäre es interessant, so die Autorinnen und Autoren der Studie, herauszufinden, ob die Vorteile eines Lebens in Bewegung grösser sind als die Gefahren, denen die Tiere dabei ausgesetzt sind.

Auch andere Tiere legen Rekordstrecken zurück: Eine besenderte Polarfüchsin (hier ein Archivbild) wanderte 2018 von Svalbard bis nach Ellesmere Island und legte so 4’415 Kilometer in rund 4 Monaten zurück. Polarfüchse sind in etwa gleich gross und schwer wie Polarhasen. Bild: Michael Wenger

Die Tatsache, dass arktische Tiere weite Wanderungen unternehmen, ist nicht neu und dank immer besserer Satellitentechnologie kommen so auch erstaunliche Leistungen an den Tag. Beispielsweise wanderte eine besenderte Polarfüchsin 2018 innert vier Monaten rund 4’415 Kilometer weit von Svalbard bis Ellesmere Island. Polarfüchse sind etwa gleich gross und schwer wie Polarhasen und sind ebenfalls an ein Leben in der eisigen Weite der Hocharktis angepasst. Darum scheint es auch nicht unwahrscheinlich, dass Polarhasen doch nicht die «Stubehocker» sind, für die man sie lange gehalten hat. Zukünftige Studien werden zeigen, ob BBYY einzigartig unter den Polarhasen war oder den Startschuss für eine Neubetrachtung der Lebensweise ihrer Artgenossen gebildet hat. Auf jeden Fall wird die Leistung der Häsin auch nach ihrem Ableben in der Wissenschaft verewigt sein.

Dr. Michael Wenger, PolarJournal

Link zur Studie: Lai, Sandra, Desjardins, Émilie, Caron-Carrier, Jacob, Couchoux, Charline, Vézina, François, Tam, Andrew, Koutroulides, Nathan, and Berteaux, Dominique. 2022. “ Unsuspected Mobility of Arctic Hares Revealed by Longest Journey Ever Recorded in a Lagomorph.” Ecology e03620. https://doi.org/10.1002/ecy.3620

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