Der Vielfraß – ein kaum bekannter Arktisbewohner | Polarjournal
Bestens an den hohen Norden angepasst können Vielfraße die Auflagefläche ihrer Pfoten fast verdoppeln und sie wie Schneeschuhe nutzen. Bei einer Verfolgungsjagd können sie die meisten Tiere einholen bzw. abhängen. Foto: Peter Mather

Welche Tierarten fallen Ihnen ein, wenn Sie an die Arktis denken? Vermutlich nicht unbedingt der Vielfraß (Gulo gulo). Das liegt möglicherweise auch daran, dass die charismatischen Tiere keine Lobby haben und selten geworden sind. Sie sind wenig beliebt im hohen Norden und wurden stark bejagt oder verloren ihren Lebensraum.

Der Vielfraß hat keinen guten Ruf und ist vor allem bekannt für sein „unangenehmes Wesen“. Dieser hundegroße Marder, der etwa 15 Kilogramm wiegt, hat dolchartige Krallen und Kiefer, die stark genug sind, um einen gefrorenen Elchkadaver auseinander zu reißen. Er frisst alles, einschließlich der Zähne. In einigen Kulturen ist er als „Stinktier-Bär“ bekannt, wegen des abscheulich riechenden Sekrets, mit dem er sein Territorium markiert. Und doch kann er aus bestimmten Blickwinkeln, mit seinen Schneeschuhpfoten und einem Gesicht wie das eines Bärenjungen, kuschelig wirken. Das ist er aber ganz und gar nicht. Ein Vielfraß greift ein zehnmal so großes Tier an, jagt einen Elch oder ein Karibu kilometerweit, bevor er es zu Fall bringt. „Sie sind nur ein bösartiges Stück Muskelmasse“, sagt Qaiyaan Harcharek, ein Inupiat-Jäger in Utqiagvik an der arktischen Küste Alaskas. „Selbst die Bären legen sich nicht mit den kleinen Kerlen an.”
Wobei “bösartig” hier den Charakter von Vielfraßen sicher nicht passend beschreibt. Stattdessen sind sie “hingebungsvolle Eltern und sie sind hartnäckig und unabhängig”, wie Rebecca Watters, Direktorin der Wolverine Foundation, anmerkt. “Sie wandern hunderte von Kilometern auf der Suche nach neuen Gebieten. Sie erklimmen Berge, um zu überleben. Sie sind clever und verspielt. Sie können Bären und Wölfe die Beute abjagen, aber sie sterben auch oft bei diesen Begegnungen. Sie sind durch den Klimawandel zutiefst verwundbar.” Weiter beschreibt sie, dass “die Grimmigkeit der Vielfraße von ihrem Überlebensdrang herrührt, nicht von einem angeborenen ‘unangenehmen Charakter’.“

Ein von den Wissenschaftlern freigelassener Vielfraß in einem Schneesturm. Trotz Temperaturen von bis zu -35° C ist der Winter die beste Zeit, um nach dem schwer fassbaren Tier zu suchen: die Spuren und der Kot sind sichtbar, mit Schneemobilen kommt man schnell voran und Bären, immer eine Gefahr, halten Winterschlaf. Foto: Peter Mather
Ein Vielfraß gräbt in der Nähe seiner Schneehöhle. Die Forscher waren überrascht, dass die Schneedecke in Alaskas North Slope möglicherweise früher im Jahr schmilzt als die Schneedecke in den Rocky Mountains. Foto: Peter Mather
Ein Grizzlybär schaut in ein von einem Vielfraß gegrabenes Loch, vielleicht auf der Suche nach etwas zu essen. Vielfraße verstecken Fleisch im Schnee, um es vor Aasfressern zu verbergen, und werden von der einheimischen Bevölkerung für ihre Gerissenheit und Stärke bewundert. Foto: Peter Mather

Früher waren Vielfraße in den Vereinigten Staaten relativ häufig, aber durch Fallen und den Verlust von Lebensraum ist die Population auf nur noch etwa 300 Tiere geschrumpft, die jetzt hauptsächlich in den Cascade Mountains und den nördlichen Rocky Mountains leben. Die arktischen Populationen gelten als gesünder, aber die verstohlene Natur der Tiere und das riesige Gebiet, das sie jeweils bedecken, stellen eine Herausforderung für die Wissenschaftler dar. „Man muss sich bemühen, genug von ihnen zu finden, um vernünftige Schlussfolgerungen über die Population zu ziehen“, sagt Tom Glass, ein Feldbiologe der Wildlife Conservation Society (WCS), die eine umfassende Feldstudie über arktische Vielfraße durchführt.

Der Inupiat-Jäger Qaiyaan Harcharek trägt einen mit Vielfraßfell gefütterten Parka. Tätowierungen an seiner linken Hand ehren seine Rolle als Harpunierer in seinem Walfangteam; am rechten Handgelenk zollen Markierungen (nicht sichtbar) dem Vielfraß Tribut. Foto: Peter Mather

Von tief fliegenden Flugzeugen über Alaskas North Slope aus haben die Forscher beobachtet, dass Vielfraße „so gut wie überall“ leben, sagt Martin Robards von der WCS. Dutzende von Vielfraßen, die von den Forschern in der Tundra gefangen und mit Satellitenhalsbändern ausgestattet wurden, verraten, wie die Tiere leben. Ein typischer Tag könnte so aussehen: ein 12-stündiges Nickerchen in einer Schneehöhle, gefolgt von 12 Stunden fast ununterbrochenem Laufen, um Nahrung zu finden, wobei bis zu 40 Kilometer oder mehr zurückgelegt werden. Mehrere Weibchen leben auf dem Territorium eines einzelnen Männchens, das in einem Gebiet von gut 2000 Quadratkilometern patrouilliert. Wissenschaftler testen auch auf Krankheiten und Parasiten, indem sie Vielfraße untersuchen, die von einheimischen Jägern getötet wurden. Deren Subsistenz-Gemeinden schätzen Vielfraße für ihr haltbares, feuchtigkeitstransportierendes Fell, das traditionell als Futter für Winterparkas genutzt wird.

Matt Kynoch, ein Biologe der Wildlife Conservation Society, inspiziert eine Vielfraßfalle. Forscher locken Vielfraße mit Fleisch an, betäuben sie mit einem „Jab-Stick“ und bringen dann ein Satellitenhalsband an. Foto: Peter Mather
Wenn ein Vielfraß den Köder schnappt, schließt ein Stolperdraht die Falle und sendet per Satellit ein Signal. Die Wissenschaftler springen auf die Schneemobile, um das Tier zu erreichen, bevor es sich den Weg nach draußen nagt. Foto: Peter Mather
Ein betäubter weiblicher Vielfraß wird gewogen, bevor die Forscher ihn mit einem Satellitenhalsband ausstatten. Es ist mit einem Stoff befestigt, der sich in wenigen Monaten auflösen soll – um die Auswirkungen auf das Tier zu minimieren. Foto: Peter Mather
Die Wissenschaftler fotografieren die Zähne eines betäubten Tieres, um seine Gesundheit und sein Alter zu bestimmen. Die Bilder können auch zur Identifizierung eines wieder gefangenen Vielfraßes verwendet werden. Die speziellen oberen Backenzähne, die sich nach innen biegen, zermalmen Knochen und zerreißen gefrorenes Fleisch. Foto: Peter Mather

Glass, der WCS-Forscher, interessiert sich besonders dafür, wie arktische Vielfraße die Schneedecke zur Aufbewahrung von Nahrung, zum Schutz vor Raubtieren und vor allem zur Aufzucht ihrer Jungtiere, die im frühen Frühjahr in Schneehöhlen geboren werden, nutzen. Die Höhlen sind Tunnelsysteme von überraschender Komplexität. Sie können bis zu drei Meter tief sein und sich bis zu 60 Meter entlang eines schneebedeckten Flussufers erstrecken, und sie umfassen separate Tunnel für Schlafplätze und Toilette und andere für die Lagerung von Nahrung – z.B. Karibu-Schenkel. Da die Schneehöhlen für die Gesundheit junger Vielfraße und damit für künftige Populationen von entscheidender Bedeutung zu sein scheinen, ist die Erforschung besonders dringlich. Die Arktis erwärmt sich doppelt so schnell wie der Rest des Planeten, und die Schneedecke scheint im Durchschnitt alle zwei Jahre einen Tag früher zu schmelzen.

In Alaskas Arctic National Wildlife Refuge frisst ein Vielfraß ein Karibu, das starb, nachdem es von Wölfen über eine Klippe gejagt wurde. Biologen beobachteten, dass auch Bären, Adler, Füchse und Raben sich einen Monat lang von dem Kadaver ernährten. Foto: Peter Mather

Unterdessen erhalten die Forscher eine neue Perspektive auf die kratzbürstigen Raubtiere. Weibliche Vielfraße, die alle ein bis drei Jahre einen Wurf von Jungtieren gebären, leben etwa ein Jahr lang mit ihren Jungen. „Wir haben Bilder aus Fortpflanzungshöhlen von der Mutter mit ihren Jungen“, so Glass. „Sie verbringen viel Zeit nur mit Spielen. Sie spielen miteinander und dann nerven sie ihre Mutter, die ein Nickerchen macht. Es sieht aus wie eine Familienszene von jedem beliebigen Tier. Sie sind süß und kugelrund.“

Quellen:  Smithsonian Magazine, Rebecca Watters

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