Heisse Zeiten: Russlands Vorsitz und polare Erwärmung | Polarjournal
Die arktische Umwelt befindet sich im Umbruch, angetrieben durch die steigende Erwärmung. Sie beeinflusst auch die Politik des Arktisrates unter dem russischen Vorsitz. Bild: I. Quaile

Das Treffen des Arktisrats in Reykjavik hatte im Vorfeld die Hoffnung genährt, dass die Anrainerstaaten der Arktis die Probleme, denen sich die Arktis stellen muss, angehen werden. Das Treffen endete mit der Absichtserklärung von Reykjavik und einem Strategieplan des Rates zur Bewältigung der Probleme. Journalistin und Polarkennerin Dr. Irene Quaile-Kersken hat das Treffen verfolgt und analysiert, was die Erklärung und die Strategiepläne tatsächlich bedeuten.

Das Treffen des Arktischen Rats in Reykjavik, Island, am 20. Mai wurde in den Medien viel beachtet. Schließlich nahm sowohl der neue US-Außenminister Antony Blinken als auch sein russisches Gegenüber Sergey Lawrow teil. Im Rat kommen die beiden Rivalen und ehemaligen Feinde im Kalten Krieg in einem Forum, das der Kooperation gewidmet ist, zusammen. Das Ziel: Stabilität, Umweltschutz und nachhaltige Entwicklung in einer Region, die gemeinsam von Ländern und indigenen Völkern geteilt wird. Zum 25. Jahrestag des Arktischen Rats kamen die Minister zum ersten nicht-digitalen Treffen des Rats zusammen seit Anfang der COVID-Pandemie. Russland übernimmt für die nächsten zwei Jahre von Island den Vorsitz, zu einem brenzligen Zeitpunkt, da der Klimawandel die Agenda in der Arktis und in der ganzen Welt dominiert.

Der Arktisrat feiert dieses Jahr auch sein 25-jähriges Bestehen. Seit der Gründung hat sich die Arktis und ihr Umfeld signifikant verändert. Bild aus Arctic Frontiers 2021. Screenshot I.Quaile, cartoon: Baz Köhler

Faktor Klima

Die Arktis hat in letzter Zeit an internationalem Interesse gewonnen. Die Auswirkungen des Klimawandels eröffnen einerseits die Region mit ihren reichen Vorkommen an natürlichen Ressourcen. Gleichzeitig wächst das Bewusstsein der Bedeutung des Abschmelzens von Eis und des tauenden Permafrosts für das Weltklima. Länder streben den „Beobachterstatus“ an, um einen Sitz am Rande des arktischen Tisches zu bekommen.

Die gute Nachricht aus Reykjavik: seitdem Joe Biden Donald Trump als US-Präsident abgelöst hat, ist der Klimawandel wieder auf der Agenda des Arktischen Rats – und zwar ganz oben. Beim letzten Treffen der Außenminister 2019 im Finnischen Rovaniemi hatte der damalige US-Außerminister Mike Pompeo die Erwähnung des Ausdrucks „Klimawandel“ in der Abschlusserklärung abgelehnt. Es kam zum Eklat. Es gab keine Abschlusserklärung. Diesmal brachte Blinken das Thema als höchste Priorität mit.

Die weniger-gute-Nachricht aus der isländischen Hauptstadt: der Klimawandel trifft die Arktis noch schneller und starker als bisher vermutet. AMAP, (Arctic Monitoring and Assessment Programme) veröffentlichte einen neuen Bericht: Arctic Climate Change Update 2021, der zeigt, dass der Klimawandel die Arktis inzwischen dreimal, nicht wie bisher zweimal so schnell und hart trifft wie der globale Durchschnitt.

In der abschließenden Erklärung von Reykjavik nahmen die Minister mit “äußerster Besorgnis” zur Kenntnis, dass diese Erwärmung schädliche Auswirkungen auf  “die Umwelt, die Artenvielfalt, die Gesellschaft und die Infrastruktur sowie die traditionellen Lebensgrundlagen vieler arktischen Gemeinden“ habe. Außerdem betonten sie die Notwendigkeit verstärkten Handelns, um die langfristigen Temperaturziele zu erreichen und das Pariser Klimaabkommen effektiv umzusetzen. Rekordtemperaturen und Brände in vielen Regionen der Arktis unterstreichen die Erkenntnisse der Wissenschaftler.

Anlässlich des 25en Jahrestag des Rats wurde zum ersten Mal ein “Strategischer Plan” für die nächsten 10 Jahre vorgestellt. Laut Dr. Peter Winsor von WWF Arctic Progamme könnte dies die Transparenz und Verantwortlichkeit der Organisation erhöhen sowie zu mehr Stabilität und Kontinuität führen. Das Dokument ist allerdings sehr allgemein gehalten. Für Arktisexpertin Heather Exner-Pirot vom  Arctic Yearbook bestätigt der Plan lediglich das, was die Organisation bereits tut. Die Pressemitteilungen der Ministerialtreffen seien mehr oder weniger austauschbar, schreibt sie in einem Blogbeitrag für Eye on the Arctic.

Russische Rhetorik?

Zum zweiten Mal im Vierteljahrhundert übernimmt Russland den Vorsitz. Eine gute oder eine schlechte Nachricht für das Klima? Wenn Moskau die Entwicklungsagenda in der Arktis weg von Öl- und Gasbohrungen in Richtung erneuerbare Energien und den Schutz der einzigartigen Natur drehen sollte, wäre das eine fantastische Nachricht. Allerdings steckt in dieser Idee eine ganze Menge Wunschdenken.

Wunschdenken? Die Autorin nahe Ny-Alesund, Svalbard. Bild: Rainer Vockenroth/AWI

Das russische Programm für die kommenden zwei Jahre betont nachhaltige Entwicklung. Aber was heißt das für eine Wirtschaft, die auf fossilen Energien beruht? Im Dokument geht es auch um das „wachsende Potential“ im Zusammenhang mit „nachhaltigem Wachstum“ in der Arktis. Es sei wichtig nicht nur auf die Anfälligkeit der Region für die Auswirkungen zu achten, sondern auch auf die Aussichten und Möglichkeiten, die sich aus seinen natürlichen, Energie- und Transportressourcen ergeben. Man könne einen substantiellen Beitrag zu einer Energiewende und zum Erreichen der Ziele des Pariser Abkommens leisten.

Hier scheint es einige mögliche Widersprüche zu geben. Wie sollen die Möglichkeiten und Ressourcen einer sich erwärmenden Arktis ausgebeutet werden ohne den Klimawandel noch weiter zu verstärken? Wie wird Moskau die arktischen Länder beim Erreichen der Pariser Ziele anführen, ohne grundlegende Veränderungen seiner auf Öl und Gas basierenden Wirtschaft? Wird Russland rechtzeitig vor der UN-Klimakonferenz in Schottland Ende des Jahres ausreichende eigene neue Klimaziele vorlegen?

In der Schlusserklärung von Reykjavik bekräftigen die Minister die Bedeutung der Einhaltung der Pariser Klimaziele. Sie appellieren an alle Unterzeichnerstaaten, inklusive den arktischen Staaten und den Beobachterstaaten, sie umzusetzen.

Dort ist auch ein Hinweis an China enthalten. Der weltgrößte Emittent von Treibhausgasen ist seit 2013 Beobachter im Arktischen Rat. 2018 gab China Pläne für eine „polare Seidenstraße“ bekannt – ein Netzwerk aus arktischen Schiffsrouten. Das Land hat sich selbst as “near-Arctic state” bezeichnet, und mit zunehmenden Aktivitäten im hohen Norden für Kontroverse und Unsicherheit gesorgt.

Chinas Eingang in die Arktis: Die chinesische Station in Ny-Alesund, Svalbard. Bild: I. Quaile

Die Klimarhetorik der Abschlusserklärung mag sich gut lesen. Sie bringt aber gar nichts, wenn die Staaten ihre Worte nicht in Taten umsetzen. Die USA, nach China der zweitgrößte Emittent, hat seit dem Amtseintritt von Joe Biden ihre Ziele erhöht. Russland hat noch einige Hausaufgaben zu erledigen. Das gilt auch für andere Mitglieder des Rates, die ihre eigenen Interessen im fossilen Sektor haben.

Auf dünnem Eis – oder einsinkendem Permafrost

Moskau befindet sich in einer Art Dilemma. Einerseits gibt es, wie bereits erläutert, die Möglichkeit, weitere fossile Energiereserven auszubeuten. Gleichzeitig macht der internationale Klimakonsens solche Aktivitäten weniger profitabel.

Der tauende Permafrost bedroht gleichzeitig die ganze Infrastruktur des russischen Nordens. Präsident Putin hat sich in den letzten Jahren vom Klimaskeptiker zum Bekenner gemausert. Das scheint sich aber noch nicht auf die russischen Öl- und Gasaktivitäten ausgewirkt zu haben.

Im Barents Observer vom 19. Mai erinnerte Thomas Nilsen seine Leser an Russlands Arktisstrategiepapier vom letzten Jahr. Da ist viel von Öl, Gas und Schifffahrt zu lesen, schreibt Nilsen, aber nur einige wenige Worte über den Klimawandel und grüne Energie.

Bei allen Arktisnationen spielen Schifffahrt und Öl eine wesentliche Rolle in ihren strategischen Überlegungen, auch in Tromsö, Norwegen. Bild: I. Quaile

Machtspiel

Die Nordostpassage durch die Arktis gehört zu den wichtigsten russischen Entwicklungsplänen. Sie könnte die Entfernung zu Asien im Vergleich mit dem Suezkanal um ungefähr die Hälfte reduzieren. Durch den Klimawandel wird die Route zunehmend eisfrei und mehrere Monate im Jahr lang navigierbar. Moskau möchte die Route kontrollieren und baut bereits Häfen und Eisenbahnen. Das passt seinen „Partnern“ im Arktischen Rat nicht. Auch China, wie oben erwähnt, stellt eigene Ansprüche.

Spätestens hier wird es klar, dass die Sicherheit in der Arktis eine große Rolle spielt. Militärische Angelegenheiten bleiben der Tradition nach im Arktischen Rat außen vor. Ironischerweise war es der damalige US-Außenminister Mike Pompeo, der beim letzten Treffen das Tabu gebrochen hatte.

Jährliche Treffen der Sicherheitschefs der arktischen Staaten wurden 2014 nach der Annexion der Krim ausgesetzt. Das möchte Russland jetzt wieder ändern. Außerminister Lawrow möchte den militärischen Dialog wieder ins Leben rufen, um zur „Stabilität” beizutragen.

Der scheidende Vorsitzende, der isländische Außenminister Gudlaugur Thor Thordarson lehnte das diplomatisch ab. Lawrow betonte später, sein Land werde trotzdem weiterhin versuchen, den militärischen Aspekt wieder in den Rat zu holen.

Offensichtlich will Moskau trotz des Disputs über die Krim und der Auseinandersetzung mit der Ukraine seinen Vorsitz nutzen, um die Beziehungen wieder zu „normalisieren“.

Auf beiden Seiten der Grenze zwischen Norwegen und Russland hat es verstärkte militärische Aktivität gegeben. Russland hat seine Präsenz erhöht, Stützpunkte ausgebaut. Fünf Mitglieder des Rats sind NATO-Mitglieder. Auch sie haben ihre Aktivitäten in der Region verstärkt. Norwegen hat den USA den Zutritt zu ihren arktischen Gebieten erleichtert.

Geschäftigte Zeiten für die norwegische Küstenwache in Tromsö. Bild: I. Quaile

Wettbewerb und Kooperation

Der kanadischeAußenminister Marc Garneau lehnte im Interview mit Eye on the Arctic den russischen Vorschlag ebenfalls ab. Er insistierte aber, dass diese Entwicklung keine Auswirkung auf die Zusammenarbeit unter dem russischen Vorsitz beim Klima und bei der Entwicklung des Nordens haben werde. Die „strategische Vision“ sehe gut aus. Die Umwelt und die Menschen, die in der Arktis leben, stünden im Vorfeld. Man wolle auch die Adaption an die Klimaveränderungen vorantreiben und Umweltprobleme wie Schweröl, Rußpartikel und Plastikverschmutzung sowie den Schutz der Fischbestände angehen.

Vertreter der indigenen Gruppen beschwerten sich, ihre Ansichten bekämen zu wenig Aufmerksamkeit:

„Was nützt die Teilnahme, wenn niemand zuhört?“, sagte James Stotts vom Inuit Circumpolar Council. Er sorge sich über die aggressive und provokative Rhetorik der letzten Zeit. “Wir wollen nicht, dass unsere Heimat zu einer Region des Wettbewerbs und des Konflikts wird”, sagte er in seiner Ansprache an das Treffen der Minister.

Schließlich kann man den Klimawandel und Sicherheitsfragen nicht voneinander trennen. Die Veränderungen haben eine destabilisierende Wirkung. Der Klimawandel wirkt sich auf Nahrungsmittel, Wasser und den Transport aus. Und er wird einige Gegenden unbewohnbar machen. Kooperation ist unabdingbar, um sicher zu stellen, dass der Wettbewerb um Land und Ressourcen nicht in militärische Konflikte ausartet.  Die große Frage ist, ob die rivalisierenden Weltmächte USA, Russland und China trotz ihrer geopolitischen und systemischen Unterschiede und des Kampfes um die wirtschaftliche Vorherrschaft bei der Bekämpfung des Klimawandels zusammenarbeiten können.

Während diskutiert und debattiert wird, schmilzt das Eis unaufhörlich weiter. Bild: I.Quaile

Klimaaktion zwischen Reykayvik und Glasgow

Die Mitglieder des Arktischen Rats wollen die Aufmerksamkeit bei internationalen Klimakonferenzen wie COP26 in Glasgow zunehmend auf die Arktis lenken. Das ist sicherlich keine schlechte Idee. Wenn sie das aber glaubhaft tun wollen, müssen die Mitgliederstaaten in der Praxis beweisen, dass sie die Energiewende und den Naturschutz ernst nehmen. Man kann schlecht um Hilfe für die von der globalen Erwärmung gebeutelte Arktis rufen, wenn man gleichzeitig die Aktivitäten weiter betreibt, die den Schaden verursachen. Ein neuer Bericht der Internationalen Energieagentur IEA stellt klar, dass alle neuen Pläne für die Förderung von fossilen Brennstoffen fallen gelassen werden müssen, um bis 2050 das Netto-Null Ziel beim CO2-Ausstoß zu erreichen. Das hat bedeutende Konsequenzen für die Emissionsziele, die im November auf den Tisch kommen.

Der Arktische Rat selbst ist nicht der Ort, wo über die Klimapolitik der einzelnen Mitgliedstaaten entschieden wird. Aber die Arktis ist eine der Regionen, in der die Auswirkungen dieser Maßnahmen am schnellsten und eindrucksvollsten in Erscheinung treten. Die Arktis liegt im Herzen der Klimakrise. Der Öffentlichkeit wird immer klarer, dass auch die letzten eisigen Bastionen der Erde gegen die Erwärmung nicht immun sind – und dass dies katastrophale Auswirkungen haben könnte – auch für heiße Regionen, weit entfernt vom eisigen Norden.

Dr. Irene Quaile-Kersken

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