Rentiere – die nördlichsten Hirsche der Erde | Polarjournal
Rentiere bzw. Karibus kommen nur auf der Nordhalbkugel vor. Sie leben zirkumpolar im Sommer in der Tundra und im Winter in der Taiga. Foto: Stefan Leimer

Mit dem Ende der letzten Eiszeit vor 10’000 Jahren begann die Besiedlung Norwegens. Der Rückzug der bis zu 3’000 m dicken Eisschicht, die Skandinavien bis dahin fest im Griff hatte, machte den Weg frei für die die ersten Sammler und Jäger, die den Rentierherden entlang der Küste Richtung Norden folgten. 

Die Hjemmeluft-Bucht (Deutsch: Robbenbucht) in der Nähe der heutigen Stadt Alta wurde für die Steinzeitmenschen ein bedeutsamer Versammlungsort. Hier wurden in den Jahren 7’000 bis 2’000 v.Chr. mehr Gravuren in den Felsen gemeisselt als im restlichen Nordeuropa. Von den Menschen, die damals hier lebten, ist ausser ihren Kunstwerken leider nichts überliefert. Die Darstellungen von ca. 6’000 Figuren geben aber einen facettenreichen Einblick in ihren Alltag und zeigen eine Gesellschaft, die vom sammeln, jagen und vom Fischfang lebte.

Die Abbildungen stellen einerseits Alltagssituationen dar, anderseits erlauben sie – je nach Interpretation – Rückschlüsse auf die spirituelle Gedankenwelt der Menschen, die damals hier gelebt haben. Die Bilder zeigen Tiere wie Elche, Bären und verschiedene Vögel. Aber auch Fische oder Fischernetze und Boote sowie andere Jagdmethoden werden abgebildet. Und Menschen bei ihren unterschiedlichsten Aktivitäten. Auffallend häufig sind Rentiere abgebildet, die damals eine wertvolle Jagdbeute waren. Die Rentiere lieferten den Menschen vieles von dem, was sie zwingend zum Überleben in dieser kalten Region brauchten. Fleisch und Fett als Nahrung, Sehnen und das Fell für Kleidung. Aus den Knochen wurden Werkzeuge geschnitzt oder sie wurden aufgeschlagen, um an das nahrhafte Mark zu kommen. Aus dem Geweih der Rentiere machten die Jäger Speerspitzen und Harpunen.

Heute leben Rentiere in den nördlichsten Regionen Asiens, Europas und Nordamerikas (dort als Karibu bekannt), wo sie in der Tundra und Taiga vorkommen. Auf unserer Fahrt durch die Finnmark Ende August begegneten wir Ihnen aber vor allem in den Fjells. D.h. in den Bergen und Hochebenen oberhalb der Waldgrenze, die hier – je nach Breitengrad – bereits bei 180 M.ü.M beginnt. Während in Sibirien und Nordamerika Ren bzw. Karibu noch nach ihrem natürlichen Rhythmus leben, sind die Rentiere, denen man in Skandinavien begegnet, praktisch alles domestizierte Nutztiere der Sami. 

In Skandinavien sind Rentiere fast ausschließlich Nutztiere der Sami. Foto: Stefan Leimer

Norwegen ist eines der letzten Länder Europas, in denen es noch natürliche Populationen von Rentieren gibt. Das Land trägt eine internationale Verantwortung für die Bestandserhaltung der Wildrentiere, denn etwa 90% des Bestandes aller wilden Tundra-Rentiere leben in Norwegen. Im 18. und 19. Jahrhundert wurden so viele Tiere gezähmt, dass es fast keine wilden mehr gab. Zwischen 1902 und 1906 wurden deshalb die wilden Rentiere unter Schutz gestellt. Das führte zwar kurzfristig zu einer Erholung des Bestands, aber sicherte diesen nicht auf Dauer. 1920 schätzte man die Anzahl der Tiere auf 2.700. In den 1930er Jahren führte Norwegen eine strenge Quotenregelung für die Jagd ein. Heute gibt es wieder etwa 35.000 wilde Tiere, die zum größten Teil in Südnorwegen zu finden sind. Die Hardangervidda, eine 8’000km2 Hochebene ist Norwegens größter Nationalpark und bekannt dafür, dass sie Heimat der letzten wilden Rentiere ist. 

Man geht heute davon aus, dass die Rentiere erstmals vor 3000–1000 Jahren im Osten Russlands domestiziert wurden und die Rentiere somit zu den letzten Wildtieren gehören, die vom Menschen domestiziert wurden. 

Warum Rentiere erst relativ spät domestiziert wurden, ist Spekulation. Wissenschaftler glauben, dass dies mit der grundsätzlich fügsamen Natur von Rentieren zusammenhängen könnte. Wilde erwachsene Rentiere lassen sich bereitwillig melken und bleiben auch gerne in der Nähe menschlicher Siedlungen. In dem kleinen Fischerort Gamvik an der Barentssee liefen uns die Rentiere mitten im Dorf vor das Auto. Rentiere sind anderseits aber unabhängig und müssen nicht von Menschen untergebracht und gefüttert werden.

Foto: Stefan Leimer

Zutraulich sind sie deswegen noch lange nicht. Meine ersten Versuche, in der Natur Fotos zu machen, scheiterten kläglich. Die Tiere nahmen Reissaus, lange bevor ich in akzeptabler Foto-Distanz war. Erst als ich die Windrichtung berücksichtigte und mich nur sehr langsam bewegte, liessen mich die Ren etwas näher an sich heran. Legte ich mich gar auf den Boden, wurden die Tiere richtig gehend neugierig und näherten sich von sich aus immer weiter an.

Die Rentiere sind mit unserem Rothirsch verwandt. Bei den Rentieren tragen allerdings auch die Weibchen Geweihe, das sie im Frühling oder – in manchen Subpopulationen – sogar erst im Sommer abwerfen. Im Winter brauchen sie ihr Geweih, um im Winter während der Schwangerschaft die kargen Futterstellen gegenüber anderen Weibchen zu verteidigen und sich so genug Nahrung für sich und ihr ungeborenes Kalb zu sichern. Die männlichen Rentiere werfen ihr Geweih hingegen im Herbst ab. Die Rentiere, die den Schlitten des Weihnachtsmannes ziehen und nie ohne Geweih dargestellt werden, sind folglich alles Weibchen. 

Die Stangen sind etwas abgeflacht, haben eine helle Farbe und sind oft auffallend asymmetrisch gebaut. So unterscheidet sich das Rentier-Geweih von den Geweihen aller anderen Hirscharten. Zudem ist das Geweih im Verhältnis zur Größe der Tiere überdurchschnittlich gross.

Foto: Stefan Leimer

Hauptnahrung der Rentiere im Winter sind Flechten am Boden und an den Bäumen, ergänzt durch trockenes Gras und Strauchgewächse. Im Sommer ernährt sich das Rentier von Kräutern, Gras, Zwergbüschen und mitunter auch von Flechten. Eine dieser Flechten ist unter dem Namen «Rentierflechte» bekannt, wächst in borealen Nadelwäldern, in der Tundra und in alpinen Zwergstrauchheiden und ist in Nordeuropa bedeutende Futterquelle der Rentiere. Durch Überweidung soll sie stellenweise allerdings bereits selten geworden sein. Die Rentierflechte ist grundsätzlich auch für den Menschen geniessbar und wurde in Notzeiten zu Brotmehl verarbeitet. 

Rentiere sind bestens an das Leben in extrem kalten Regionen angepasst. Foto: Stefan Leimer

Rentiere haben im Verlaufe der Evolution Anpassungen entwickelt, die es ihnen erlauben, in extrem kalten Regionen zu überleben.

Forschungen zeigen, dass Rentiere die rote Färbung ihrer Riechorgane der extremen Konzentration von Adern verdanken, die ihre Nase mit warmem Blut versorgen und so helfen, die Körpertemperatur in der rauen Umwelt zu regulieren. Wenn Rentiere überhitzen – bspw. durch langes Rennen – können sie die überschüssige Wärme nur über die Nase und die Beine abführen. Der Rest ihres Körpers ist durch das dicke Fell zu stark isoliert. 

In Sachen Energieeffizienz übertreffen Rentiere alle anderen Landlebewesen. Das Winterfell der Tiere ist mit circa 700 Haaren/cm² etwa dreimal so dicht, wie bei anderen Hirscharten. Die hohlen Fellhaare speichern die Luft, die so aufgewärmt wird und die Tiere perfekt isoliert. Während des Winters wachsen die Haare in den Gesichtern so lang, dass sie die Lippen bedecken und somit die Schnauzen schützen, wenn sie im Schnee nach Futter suchen. 

Das dichte Fell hat aber auch Nachteile, sobald die Temperaturen schwanken. Da den Rentiere dann schnell zu warm wird, erhöhen sie ihre Atemfrequenz von sieben auf bis zu 250 Atemzüge pro Minute. Die vorbeiströmende Luft wird so zum Verdunsten gebracht und kühlt damit das Blut in der Nase, das zur Temperaturregulierung in den Körper gepumpt wird.
Auffallend ist, dass Rentiere beim gehen klicken. Diese charakteristischen Laute entstehen durch Sehnen, die sich über Knochenvorsprünge im Fuß spannen. Einige Wissenschaftler glauben, dass diese Klicklaute den Tieren helfen, sich bei Schneestürmen zu orientieren, um als Herde zusammenzubleiben.

Im Winter scharren sie die spärliche Nahrung mit ihren Hufen und mit der Nase frei. Foto: Stefan Leimer

Die Kälber werden innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums im Frühjahr geboren. Ein neugeborenes Rentierkalb wiegt zwischen fünf und neun Kilogramm und kann bereits wenige Minuten nach der Geburt auf den eigenen Hufen stehen. Sie müssen von Beginn an mit der Herde mithalten. Dank der nahrhaften Muttermilch, mit 20% Fettanteil eine der fettreichsten Milch der landlebenden Säugetiere, wachsen sie sehr schnell. Zum Vergleich: Die Milch von Kühen hat einen Fettgehalt von etwa 3-4%. Bereits nach einem Monat werden die Kälber entwöhnt. In der kargen Taiga und Tundra bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich von Gräsern, Flechten, Pilzen, Laub und Rinde zu ernähren.

Jetzt, Anfang Oktober werden die Tage schnell kürzer. Der Winter kündigt sich an und es kann jederzeit der erste Schnee fallen. Während uns Menschen der Wechsel vom Polartag zur Polarnacht Probleme bereitet, führend die Rentiere ein vom Licht unabhängiges Leben. Da es ihnen während der Dunkelzeit nicht möglich ist, ihren Lebensrhythmus nach dem Tag-Nacht-Rhythmus auszurichten, verteilen sie Schlafen und Fressen über 24 Stunden ganz einfach nach dem Zufallsprinzip. 

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