KORREKTUR: In unserem Artikel über die COVID-Ausbrüche bei russischen Arktisvölkern hatten wir geschrieben, dass der Autor der Studie als Gründe für ein schwächeres Immunsystem unter anderem eine genetischen Prädisposition aufgeführt hat. Diese Aussage ist nicht korrekt und wir haben den entsprechenden Teil korrigiert. Pavel Devyatkin führt die sogenannte „Zivilisationsimmunität“ auf, d.h. die Jahrtausende lange Isolation indigener Volksgruppen von der restlichen Welt. Diese Isolation ist jedoch nicht gleichbedeutend wie „genetische Prädisposition“. Wir entschuldigen uns in aller Form für diesen unbeabsichtigten Fehler.
Die COVID-Pandemie hat die ganze Welt in ihrem Griff. Auch in den arktischen Regionen von Kanada, in Alaska, in Grönland und den nordischen Ländern grassiert das Virus mit all seinen Konsequenzen. Doch aus dem grössten Teil der Arktis, demjenigen in Russland, hört man kaum etwas. Die Regionen entlang der Nordostpassage sind vielleicht zu abgelegen und durch Lockdowns und geringerer Reisetätigkeit der Bevölkerung sind die Orte sicherer. Diese Annahme ist falsch und einige der Gebiete in der russischen Arktis weisen die höchsten Fallzahlen in ganz Russland aus, gemäss einer Studie.
Die Studie, die von Pavel Devyatkin, wissenschaftlicher Mitarbeiter am The Arctic Institute, veröffentlich worden ist, kommt zum Schluss, dass indigene Einwohner in der russischen Arktis nicht nur gesundheitlich stärker von COVID betroffen sind, sondern auch wirtschaftlich, gesellschaftlich und sozial besonders stark leiden, unbemerkt aber vom Westen. Der Erfolg der Hilfsmassnahmen, die teilweise von Moskau, teilweise von der eigenen Regierung organisiert worden sind, waren sehr stark von den lokalen Infrastrukturen und Ressourcen abhängig, schreibt Devyatkin zusammenfassend.
Die COVID-Pandemie ist im russischen Fernen Osten schon seit dem Frühjahr aktiv, anders als in anderen Arktisregionen. Besonders betroffen sind diejenigen Gebiete, in denen die grössten Förderanlagen für Erdöl und -Gas stehen. Dazu gehören die Regionen Murmansk und die Yamal-Nenets-Region. Dort sind die Zahlen im Vergleich zum restlichen Russland am höchsten. Beispielsweise meldet die Region Yamal-Nenets über 28’000 Fälle (Einwohnerzahl: ca. 544’000), Murmansk sogar 30’000 (Stand 10. Dez.), die Region Krasnojarsk (2.8 Mio. Einwohner) über 40’000 Fälle. Auch Kamtschatka und Sacha sind Regionen mit sehr hohen Fallzahlen. Wahrscheinlich wurde die Krankheit mit Arbeitern aus dem Ausland und südlichen Regionen eingeschleppt. Die Ausbreitung wurde durch schleppende Massnahmen und halbherzige Umsetzungen von Seiten der Behörden und der Betroffenen begünstigt, schreibt Devyakin weiter. Auch die Tatsache, dass indigene Bevölkerungsanteile viel anfälliger auf das Virus seien aufgrund eines schwächeren Immunsystems, habe zu höheren Fallzahlen geführt. Diese Schwächung führt Devyakin auf schlechtere Lebensbedingungen, mangelhafter Ernährung und verstärkten Alkoholismus und vermehrte Atemwegserkrankungen zurück. Die Nähe und die Wichtigkeit familiärer Banden und sozialer Kontakte ist ein weiterer Grund für die höhere Verbreitung.
Neben den gesundheitlichen Folgen der COVID-Erkrankung sind aber höhere soziale und kulturelle Verluste aufgrund der Pandemie in der russischen Arktis zu verzeichnen gewesen. Vor allem der Tod zahlreicher älterer Menschen, die noch das kulturelle Erbe der lokalen Bevölkerung bewahrte, führt zu einem nichtwiedergutzumachenden Schaden an der Identität der Einheimischen. Auch sozial habe COVID seine Spuren hinterlassen, schreibt Devyakin weiter. Gemäss Angaben offizieller Stellen seien die Fälle von Selbstmord, Depressionen und auch häuslicher Gewalt in den Regionen massiv angestiegen. Da auch die schulischen Aktivitäten eingestellt waren, konnten sich Jugendliche kaum bewegen. Neben den Besuchsverboten und sozialer Isolation kamen noch Verbote von Fischfang und Jagd dazu, traditionelle Aktivitäten, die für die Bevölkerung lebenswichtig sind. Denn in vielen Orten ist die Selbstversorgung essentiell.
Diesbezüglich war auch das Verbot der Behörden an Rentierzüchter, mit den Baustellen und den Orten Handel zu treiben, ein schwerer wirtschaftlicher Schlag für die Bevölkerung. Denn so ging eine der wichtigsten Einnahmequellen der traditionellen Rentiernomaden verloren. Finanzielle Hilfe der Regionalbehörden hing sehr stark vom Reichtum der Region ab, so dass zahlreiche Familien in Notlage gerieten. Auch Hilfen im Lehrbereich der Schulen hängt von der Region ab. Während in Yamal Laptops mit Internetanschluss an Schüler ausgehändigt werden, müssen Schüler im benachbarten Jakutien alles auf Papier schreiben und bei den Schulen abgeben. In seiner Schlussbewertung schreibt Pavel Devyatkin, dass das Risiko gesellschaftlicher und kultureller Schäden langfristig gesehen enorm gross ist. Obwohl die Regierung in Moskau die Stärkung der indigenen Bevölkerung in der Arktis zu einem ihrer Hauptziele während der Präsidentschaft im Arktisrat erklärt hatte, müssen in der nahen Zukunft Taten den Worten folgen.
Dr. Michael Wenger, PolarJournal
Link zur Studie: