Kanada begeht 1. Nationalen Gedenktag für Wahrheit und Versöhnung | Polarjournal
Heute, am ersten Nationalen Tag für Wahrheit und Versöhnung, werden in Kanada die verstorbenen indigenen Kinder und Überlebenden der Internate, ihre Familien und Gemeinden geehrt. Bild: Government of Kanada

«Heute ist ein wichtiger Tag, ein Tag, an dem wir derer gedenken, die wir verloren haben. Es ist ein Tag, an dem wir die Überlebenden der Internate, ihre Familien und unsere Gemeinschaften ehren, und ein Tag, an dem wir daran erinnert werden, dass wir uns weiterhin für Gerechtigkeit und die Rechte der Inuit einsetzen müssen.»

Rebecca Kudloo, Präsidentin der Organisation Pauktuutit Inuit Women of Canada

Kanada begeht am heutigen 30. September 2021 zum ersten Mal den Nationalen Tag für Wahrheit und Versöhnung (National Day for Truth and Reconciliation) — ein Gedenktag, der den indigenen Völkern Kanadas, den Inuit, First Nations und Métis, gewidmet ist und ein Schritt auf dem Weg zur Heilung darstellt nach Jahrzehnten der grausamen psychischen und physischen Gewalt an ihren Kindern in den kanadischen Internaten für indigene Völker.

Zwischen 1831 und 1998 existierten in Kanada 140 staatlich finanzierte indianische Internatsschulen (Indian Residential Schools), die eingerichtet wurden, um indigene Kinder von ihren Eltern und damit von ihrer Sprache, Kultur und Religion zu isolieren und sie an die kanadische Kultur anzupassen und in diese zu integrieren. In den Jahren von 1894 bis 1947 war der Besuch dieser Schulen Pflicht. Den Auftrag, die Schulen zu führen, erhielten vor allem die Kirchen (katholische, anglikanische, Presbyterianer, Methodisten u.a.).

Im Verlauf der 167-jährigen Geschichte der Internate wurden etwa 150.000 indigene Kinder ihren Familien entrissen und in weit entfernten Residential Schools untergebracht. Neben dem Trauma durch die Trennung von ihren Familien und ihrer Kultur, waren viele der Kinder physischem und sexuellem Missbrauch ausgesetzt. Zudem gab es durch Tuberkulose und unzureichende Hygienemaßnahmen laut der Kommission für Wahrheit und Versöhnung (Truth and Reconciliation Commission) mindestens 3.201 Todesfälle unter den Kindern, möglicherweise sogar mehr als 6.000. Die wahre Zahl wird wohl nie zu ermitteln sein, da die Friedhöfe der Schulen nicht markiert sind bzw. absichtlich versteckt oder überbaut wurden. Im Mai und Juni diesen Jahres wurden in British Columbia und Saskatchewan weitere Überreste von mehr als 1.100 Kindern gefunden, die in unmarkierten Gräbern begraben waren.

Kinder aus Inuit-Gemeinden wie Arctic Bay in Nunavut wurden bis 1998 ihren Familien und ihrer Kultur entrissen, um ihnen in weit entfernten Internaten die kanadische Kultur aufzuzwingen. Foto: Julia Hager

Die Überlebenden setzten sich lange für Anerkennung und Wiedergutmachung ein und verlangten Rechenschaft über das bleibende Erbe des angerichteten Leids. Erste Entschuldigungen für die Grausamkeiten erfolgten 1986 durch die United Church of Canada. Erst mehr als 20 Jahre später, 2008, entschuldigte sich auch die kanadische Bundesregierung vor indigenen Delegierten. Im selben Jahr wurde die Kommission für Wahrheit und Versöhnung eingerichtet, die die Geschichten von etwa 7.000 indigenen Menschen sammelte. In ihrem Abschlussbericht von 2015 präsentierte die Kommission 94 Aufrufe zum Handeln, darunter die Einrichtung eines Nationalen Tages für Wahrheit und Versöhnung, der heute erstmals begangen wird. Nicht zufällig fällt der Tag mit dem gesetzlichen Feiertag Orange Shirt Day zusammen, der sich auf die Erfahrung von Phyllis Webstad (Northern Secwpemc) bezieht, der an ihrem ersten Schultag in 1973 ihre neue orangefarbene Bluse weggenommen wurde.
Zusätzlich wurde das Nationale Zentrum für Wahrheit und Versöhnung gegründet, das zum ständigen Archiv für die von der Kommission gesammelten Aussagen, Dokumente und anderen Materialien geworden ist.

«Meine Botschaft, wenn ich mit der Regierung spreche, ist immer dieselbe: Die Inuit wollen nicht mehr als ihre kanadischen Mitbürger, wir wollen nur Gleichberechtigung.»

Pita Aatami, der Präsident der Makivik Corporation, der Organisation für Landansprüche der Inuit in Quebec

Der heutige Gedenktag ruft alle Kanadier, Indigene und Nicht-Indigene, dazu auf, über das historische Erbe und die noch immer gegenwärtigen Folgen der Internate nachzudenken, um die Versöhnung voranzutreiben. Rebecca Kudloo sagt in einer Stellungnahme: «Versöhnung ist ein Weg, der von allen Kanadiern verlangt, zusammenzuarbeiten und die Geschichte des Unrechts gegenüber den Inuit anzuerkennen, aber auch die Errungenschaften und Beiträge unseres Volkes anzuerkennen. Wir ermutigen nicht-indigene Kanadier, sich uns auf diesem Weg der Wahrheit und Versöhnung anzuschließen.» Kudloo lädt ein zur Teilnahme an Feierlichkeiten der Inuit, First Nations und Métis, zum Anhören der Geschichte und der Weltanschauung der Inuit-Ältesten und zum Kennenlernen der Inuit-Kultur und der Bereitschaft, von ihr zu lernen. Zudem fordert sie ein sicheres Umfeld, das alle indigenen Völker willkommen heißt.

Nach jahrelangem Ringen um Aufarbeitung der Gräueltaten gegen die indigene Bevölkerung unter kanadischer Kolonialherrschaft, wird heute der erste nationale Gedenktag zur Ehrung der Opfer begangen.
Von links nach rechts: Rebecca Kudloo, Präsidentin der Organisation Pauktuutit Inuit Women of Canada; Pita Aatami, Präsident der Makivik Corporation, der Organisation für Landansprüche der Inuit in Quebec; Mary Simon, Kanadas erste indigene Generalgouverneurin

Der National Day for Truth and Reconciliation ist nur einer von vielen Schritten, die noch nötig sein werden auf dem Weg der Versöhnung. Pita Aatami, der Präsident der Makivik Corporation, der Organisation für Landansprüche der Inuit in Quebec, sagte gegenüber Eye on the Arctic: «Dieser Tag, der den Ureinwohnern dieses Landes gewidmet ist, wird sehr geschätzt, aber er löst nicht alle unsere Probleme und den Umbruch, den die Inuit durchmachen mussten, weil jemand anderes beschlossen hat, in unseren Teil der Welt zu kommen und unser Leben zu übernehmen. Wir haben immer noch eine Menge Heilungsarbeit bei unseren kanadischen Mitbürgern zu leisten.» 

Bis heute wirken die schrecklichen Folgen der Kolonialherrschaft und im speziellen des Indian Residential School System nach. Überlebende der Internatsschulen und ihre Familien leiden unter einem historischen Trauma, das die Weitergabe der indigenen Kultur über Generationen hinweg nachhaltig beeinträchtigt. Nach wie vor sind sexueller Missbrauch, Alkoholismus, Drogenabhängigkeit, psychische Erkrankungen und Selbstmord bei den Inuit und anderen indigenen Völkern weit verbreitet.

Vor allem Inuit-Frauen gehören laut Kudloo zu den am stärksten gefährdeten Bevölkerungsgruppen, da sie nicht nur mit den Folgen der Kolonialisierung, sondern auch mit geschlechtsspezifischer Gewalt und Ungleichheit konfrontiert sind, weshalb ihr Weg der Versöhnung schwieriger sein kann.

«Versöhnung ist eine Lebensweise, die kontinuierlich und ohne Enddatum verläuft. Sie bedeutet, aus unseren Erfahrungen zu lernen und einander zu verstehen. Es geht darum, den notwendigen Raum für unsere Heilung zu schaffen. Sie bedeutet, Samen der Hoffnung und des Respekts zu säen, damit unser Garten für unsere Kinder blüht.»

General-Gouverneurin Mary Simon, Kanadas erste indigene Generalgouverneurin

In ganz Kanada finden heute zahlreiche Veranstaltungen statt wie Powwows, Entzünden heiliger Feuer, Vorträge von Ältesten, Workshops, Festmähler und vieles mehr, wobei alle Kanadier dazu aufgerufen sind, orange zu tragen. In Iqaluit, Nunavut beispielsweise wird es nach einem Moment des Schweigens einen gemeinsamen Spaziergang geben, organisiert von der Qikiqtani Inuit Association und Nunavut Tunngavik Incorporated. Außerdem werden öffentliche Gebäude in Kanada in orangefarbenen Licht angestrahlt. 

Julia Hager, PolarJournal

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