Rentiere sind ein Inbegriff für Arktis und für Wanderungen. Besonders die grossen Karibuherden in Kanada und Alaska legen jedes Jahr weite Strecken zurück, um vom Inland an die Küsten zu ziehen und dann wieder zurück. Die Gründe dafür werden mit Nahrungsverfügbarkeit und Schutz vor den Mückenschwärmen angegeben. Doch eine Studie kanadischer und US-amerikanischer Forscher hat nun gezeigt, dass es schon seit Jahrtausenden den Tieren in den Genen steckt, zu wandern. Aber eben nicht allen.
Das Forschungsteam mit Erstautorin Maria Cavedon und Studienleiter Marco Musiani von der Universität Calgary (CAN) kam nach genetischen Untersuchungen zum Schluss, dass die Karibus in Alaska und Kanada in zwei Gen-Untergruppen, eine nördliche und eine südliche, unterteilt werden können. Diese Unterteilung entstand nach Angaben der Forscherinnen und Forscher während der letzten Eiszeit, als ein gewaltiger Eisschild die Rentierpopulationen geteilt hatte. Die Resultate der Arbeit zeigen weiter, dass die Nachkommen der nördlichen Gen-Untergruppe Mutationen in Genen aufweisen, die mit ausgeprägtem Wanderverhalten in Verbindung gebracht werden, im Gegensatz zu der südlichen Untergruppe. «Wir stellen fest, dass die Neigung zur Migration vom Anteil der Vorfahren der einzelnen Karibus und somit von der Evolutionsgeschichte ihrer wandernden und sesshaften Unterart abhängt», schreibt die Forschungsgruppe in ihrer Arbeit, die in der Fachzeitschrift PLOS Genetics letzte Woche erschienen ist.
Für ihre Studie untersuchte das Forschungsteam insgesamt 139 Karibus aus verschiedenen Herden, die in Alaska und Kanada in unterschiedlichen Lebensräumen vorkommen. Karibus sind nämlich nicht nur Tundrabewohner, sondern besetzen in Nordamerika auch andere Nischen wie in Nadelwäldern und sogar die kargen Bereiche im nördlichen Nunavut und den Nordwestterritorien. Deswegen werden sie auch von der Forschung in verschiedene Unterarten eingeteilt. Da die 139 untersuchten Tiere alle auch mit GPS-Sendern ausgestattet worden waren, konnte Maria Cavedon das Wanderverhalten der Tiere mit ihren genetischen Informationen verbinden und jedes Einzeltier miteinander vergleichen. Dabei zeigte sich, dass Tiere mit ausgeprägterem Wanderverhalten Mutationen in solchen Genen aufwiesen, die bereits bei anderen Tierarten mit deren Wanderverhalten verbunden werden konnte. Dabei handelt es sich vor allem um Gene, die mit der Gehirnaktivität, der Wahrnehmung und der Fettablagerung im Körper zu tun haben.
Ein weiteres, eher überraschendes Resultat der Studie war die Tatsache, dass auch einzelne Tiere in den normalerweise nicht so stark migrierenden Unterarten die Anlagen zu verstärkter Migration aufwiesen und auch entsprechend weiter ziehen als ihre Artgenossen. Das Forschungsteam schlussfolgert daraus, dass es eventuell einen wesenseigenen Treiber geben könnte, der das Migrationsverhalten mit steuert. Einen zusätzlichen Faktor könnte die Entwicklungsgeschichte der einzelnen Tiere sein, das heisst, wie hoch der genetische Anteil der Nord- und Südpopulationen innerhalb jedes Tieres ist.
Eine Schlussfolgerung der Studie ist, dass Migration und die genetischen Informationen dafür, in den verschiedenen Populationen ungleich verteilt ist. Daraus folgern Maria Cavedon und ihre Kolleginnen und Kollegen, dass eine genetische Beeinflussung der Wanderungen von Karibus für die Tiere in Zukunft ein Problem darstellen könnte. Denn Rentiere, die bereits jetzt schon an einige Orten durch verschiedene Faktoren negativ beeinflusst sind, könnten durch den kompletten Verlust der genetischen Information, sich nicht mehr neue Gebiete suchen und könnten daher lokal aussterben. Eine Lösung, so das Team, könnte «möglicherweise die Aufrechterhaltung kritischer saisonaler Lebensräume für Karibus innerhalb und zwischen saisonalen Verbreitungsgebieten sein – eine Strategie, die auch Bewegungen und Migration über große Entfernungen zulässt.»
Dr. Michael Wenger, PolarJournal