Die Tundra ist eine erdumspannende Vegetationszone, die sich jenseits der Baumgrenze auf der Nordhalbkugel von etwa 55° Nord in Kanada bis 80° Nord in Svalbard erstreckt. Die dort vorherrschende Pflanzengesellschaft ist auf den ersten Blick unscheinbar, jedoch erstaunlich vielfältig und reicht von Moosen und Flechten über Gräser, Glockenblumen, Hahnenfußgewächse und Steinbrech bis hin zu Zwergsträuchern wie Zwerg-Birke und Polar-Weide. An der arktischen Baumgrenze finden sich nur noch einzelne Bäume wie hier beim See Keperveem (Russland, Autonomer Kreis der Tschuktschen). Foto: Stefan Kruse
Die Tundra in Sibirien gehört schon jetzt zu den Lebensräumen, die die Auswirkungen des Klimawandels besonders stark spüren, vor allem durch auftauende Permafrostböden und veränderte Niederschlagsmuster. Doch die rasant steigenden Temperaturen in der Arktis bereiten auch den Boden für die Ausbreitung der borealen Wälder nach Norden, die die Tundra verdrängen werden. Wissenschaftler vom Alfred-Wegener-Institut fanden jetzt in einer Modellierungsstudie heraus, dass auch mit ambitionierten Maßnahmen zur Treibhausgasreduktion nur ein Drittel der sibirischen Tundra erhalten bleiben würde.
In den letzten 50 Jahren ist die Lufttemperatur in der Arktis bereits um mehr als zwei Grad Celsius angestiegen — viel stärker als anderswo auf der Welt. Mit einer drastischen Reduktion der Treibhausgasemissionen (Emissions-Szenario RCP 2.6), könnte die weitere Erwärmung der Arktis bis zum Ende des Jahrhunderts auf knapp unter zwei Grad Celsius begrenzt werden. Verringern wir unsere Emissionen dagegen nicht (RCP 8.5), könnte die Arktis bis 2100 im Sommer durchschnittliche Temperaturen erleben, die 14 Grad Celsius über dem heutigen Wert liegen.
«Für den Arktischen Ozean und das Meereis wird die aktuelle und künftige Erwärmung erhebliche Konsequenzen haben», sagt Prof. Dr. Ulrike Herzschuh, Leiterin der Sektion Polare Terrestrische Umweltsysteme am AWI und Co-Autorin der Studie. «Aber auch an Land wird sich die Umwelt drastisch verändern. Die weiten arktischen Tundraflächen in Sibirien und Nordamerika werden massiv zurückgehen, weil sich die Baumgrenze aktuell langsam und in naher Zukunft sehr schnell nach Norden verschiebt. Im schlimmsten Fall wird die Tundra bis Mitte des Jahrtausends nahezu vollständig verschwinden. Im Rahmen unserer Studie haben wir diesen Prozess für die sibirische Tundra im nordöstlichen Russland im Modell simuliert. Im Zentrum stand dabei vor allem eine Frage: Welchen Emissionspfad muss die Menschheit beschreiten, um zumindest Teile der Tundra als Refugium für Tiere und Pflanzen sowie für die Kultur und traditionelle Umweltbeziehungen indigener Völker zu retten?»
Die beiden Autoren der Studie Prof. Ulrike Herzschuh und Dr. Stefan Kruse nutzten für ihre Simulation das AWI-Vegetationsmodell LAVESI. «Das besondere an LAVESI ist, dass wir die gesamte Baumgrenze auf der Ebene von Individuen, also einzelnen Bäumen darstellen können», erklärt Kruse. «Das Modell bildet dabei den kompletten Lebenszyklus von sibirischen Lärchen am Übergang zur Tundra ab – von der Samenproduktion und Samenverbreitung über die Keimung bis hin zum vollständigen Wachstum des Baums. So können wir das Voranschreiten der Baumgrenze in einem immer wärmeren Klima sehr realistisch berechnen.»
Ihre Ergebnisse zeigen, dass sich der Lärchenwald mit einer Geschwindigkeit von 30 Kilometern pro Jahrzehnt nach Norden ausdehnt. Da die Tundra wegen des angrenzenden Arktischen Ozeans im Norden Sibiriens keine Ausbreitungsmöglichkeit hat, werden diese Flächen schrumpfen. Noch läuft die Ausbreitung der Wälder sehr langsam ab, da die Vegetation der Erwärmung stark hinterher hinkt. Der Simulation zufolge nimmt die Geschwindigkeit der Ausbreitung jedoch schon ab 2030 stark zu. Bis 2500 könnten dann nur noch 5,7 Prozent der Tundraflächen in Sibirien übrig sein. Doch auch unter dem Szenario RCP 2.6 würde nur ein Drittel der ursprünglichen Fläche erhalten bleiben — auf der Taymir-Halbinsel und in Tschukotka.
«Für die sibirische Tundra geht es mittlerweile ums nackte Überleben», kommentiert Eva Klebelsberg, Referentin für arktische Regionen beim WWF Deutschland, die Studie. «Nur mit sehr ambitionierten Klimaschutzzielen ist es noch möglich, größere Flächen zu retten. Und selbst dann bleiben im besten Fall langfristig nur zwei weit voneinander entfernte Refugien mit kleineren Tier- und Pflanzenpopulationen übrig, die sehr anfällig für störende Einflüsse sind. Deshalb ist es wichtig, in den betroffenen Gebieten schon jetzt Schutzmaßnahmen und Schutzgebiete auszuweiten, um Rückzugsgebiete für die einzigartige Biodiversität der Tundra zu erhalten,» fordert Eva Klebelsberg, die sich in Kooperation mit dem Alfred-Wegener-Institut für die Ausweisung von Schutzgebieten einsetzt. «Denn klar ist: Wenn wir so weiter machen, wird dieses Ökosystem langfristig verschwinden.»
Julia Hager, PolarJournal / Originaltext: Pressemitteilung AWI
Link zur Studie: Stefan Kruse, Ulrike Herzschuh (2022): Regional opportunities for tundra conservation in the next 1000 years. eLife 11:e75163. DOI: 10.7554/eLife.75163