CIRCUS ANTARCTICA – TEIL 5 | Polarjournal
Christoph Höbenreich zieht mit Polarschlitten und kombinierter, polartauglicher Berg- und Skiausrüstung eine Schleife von den Drygalski-Bergen durch die Holtedahl-Berge in das Conradgebirge in der Ostantarktis. (Foto: Paul Koller, 2009)

Was bringt das „Polar Expeditions Classification Scheme“ (PECS)?

Um für seriöse Darstellungen und Vergleiche eine strukturierte Orientierungshilfe anzubieten und die Leistungen moderner Polarexpeditionen besser verständlich, nachvollziehbar und vergleichbar zu machen, hat ein internationales Team um den Initiator Eric Philips (AUS) mit Steve Jones (UK), Damien Gildea (AUS), Michael Charavin (F) und Christoph Höbenreich (A) intensiv daran gearbeitet, ein Schema von Prinzipien zu erstellen und Definitionen zu systematisieren.

Das ausgearbeitete Polar Expeditions Classification Scheme (PECS) ermöglicht eine zeitgemäße Charakterisierung von Polarreisen, indem es traditionelle und moderne Terminologie zu einem Label kombiniert. Es beinhaltet ein wertungsfreies Klassifizierungssystem mit Definitionen häufig verwendeter Begriffe basierend auf den modernen Reisedisziplinen sowie der Geographie der Polargebiete.

PECS gilt für ausgedehnte, unmotorisierte Polarreisen, die vornehmlich auf Schnee und Eis sowohl zu Lande wie auch zu Wasser in der Antarktis, in Grönland und im Nördlichen Eismeer in Form von Durchquerungen („Crossings“), Umrundungen („Cirumnavigations“) oder Schleifen („Loops“) durchgeführt werden. Es kann auch für Eisreisen in außerpolaren Regionen angewendet werden, wie beispielsweise in Patagonien, am Baikalsee, in Alaska etc. Relevante geographische Merkmale („Geographical features“), Reisemodi („Modes of travel“), Start- und Endpunkte („Margins“), Routen und Richtungen („Paths“) und diverse Arten der Unterstützung („Support“) werden systematisch definiert und geben Polarreisenden eine Hilfestellung zur Klassifizierung ihrer Reise. Zusammen mit der klaren Benennung der ausgeübten Disziplin („Ski-Expedition“, „Snowkite-Expedition“, „Bicycle-Expedition“ etc.) wird eine Differenzierung der Sportarten und ein objektiver Vergleich der erbrachten Leistungen möglich. Beispielsweise können etwa Reisen, die nicht in einem Stück absolviert, sondern in Abschnitten über mehrere Zeiträume verteilt durchgeführt werden und zusammengenommen zu einer größeren Gesamtleistung führen, nicht die größere Gesamtleistung als Ganzes beanspruchen, sondern eben dann „nur“ eine Zusammensetzung ihrer Teilabschnitte.

So schafft PECS einen Rahmen, der mit historischem und geographischem Verständnis frühere Leistungen berücksichtigt und eine objektivere Bewertung neuer Leistungen ermöglicht. Das Guiness Book of Records, das Weltrekorde aller Art nach den Kriterien der Messbarkeit, Vergleichbarkeit, Standardisierbarkeit und Brechbarkeit analysiert und sammelt, hat Interesse an PECS als Werkzeug zur Beurteilung erbrachter Leistungen bekundet.

Auch wenn sich erst zeigen muss, ob und wie sich diese Systematisierung und Generalisierung der bunten Vielfalt moderner Polarexpeditionen durch PECS bewährt, so ist es ein erster Schritt für eine umfassende und fundierte Orientierungshilfe. Oder wie es ein kritischer Kopf auf den Punkt brachte: „It is complicated. But it is the most compact simplification of the complication“.

Die Kernelemente von PECS kurz zusammengefasst

Teilnehmerzahl (Team size)

Team
Mehr als eine Person während der gesamten oder eines Teiles einer Reise.

Solo
Eine einzelne Person reist über die gesamte Länge und Dauer einer Reise allein. Wenn nicht ausdrücklich Solo angeführt ist, wird von einem Team ausgegangen. Solisten sollten nur vorübergehende Begegnungen mit anderen Personen führen.

Reisemodus (Mode of travel)

Der Reisemodus ist die Disziplin, mit der eine Reise überwiegend durchgeführt wird, um sich fortzubewegen und seine Ausrüstung zu transportieren, in der Regel durch Ziehen eines Schlittens. „Manhauling“ ist ein traditioneller Begriff für eine Art des Reisens, bei der Vorräte und Ausrüstung auf einem Schlitten (Pulka) in der Regel mit Ski, aber auch zu Fuß oder mit Schneeschuhen, jedenfalls ausschließlich aus eigener Kraft transportiert werden. Die bisweilen verwendeten Begriffe „unassisted“ oder „unmotorized“ zur Betonung, dass eben keine Windenergie, Hunde oder Maschinen zum Antrieb genützt werden, sind heute nicht mehr notwendig, denn die Hauptkategorien und Disziplinen sportlicher Fortbewegung auf Polarreisen sind einfach, klar und selbsterklärend. Auch Kombinationen sind möglich.

Ränder (Margins) Antarktis, Start- und Endpunkte

Start- und Endpunkt einer Reise werden üblicherweise durch die Geographie bestimmt und haben meist auch einen historischen Kontext.

Outer/Seaward Coastline
Die äußere Küstenlinie ist von Meer oder jährlichem Meereis begrenzt und schließt das Schelfeis ein (üblicherweise bei frühen Expeditionen, heute jedoch selten benützt).

Inner/Landward Coastline
Die innere Küstenlinie liegt am landseitigen Beginn des Schelfeises im Bereich der Groundingline/-zone. Hier löst sich der vom Festland strömende Eispanzer vom Untergrund und treibt am Meer auf, wo er die flachen und bis zu tausend Meter dicken Schelfeise bildet. Der Übergang ist in der Natur meist schwer zu erkennen und durch Satellitenfernerkundung einzugrenzen.

Inland Point
Ein Inlandspunkt ist ein landseitig einer inneren Küstenlinie gelegener Punkt.

Full
Eine Reise, die die äußere Küstenlinie nützt, gilt als „vollständig“. Eine vollständige Südpol-Expedition (Full South Pole Expedition) beginnt an einer äußeren Küstenlinie. Eine vollständige Durchquerung Antarktikas (Full Antarctic Crossing) beginnt und endet an gegenüberliegenden äußeren Küstenlinien.

Wege

Wege charakterisieren die Richtung und Route einer Reise von Start- bis Endpunkt. Das geographische Merkmal als Objekt bzw. Ziel der Reise ist jeweils mitanzuführen.

Geographical Feature
Ein geographisches Merkmal ist eine erkennbare Landform, die als definiertes Ziel einer Polarreise erreicht, umrundet, durchquert oder bestiegen werden kann, z.B. Eiskappe, Berg, Insel, See, Archipel, Kontinent etc.

Crossing
Eine Durchquerung traversiert ein geographisches Merkmal (zum Beispiel den Kontinent Antarktika), beginnt und endet an gegenüberliegenden Punkten bzw. Rändern und verläuft gerade oder in einem Bogen von mindestens 90°.

Double Crossing
Doppel-Durchquerung hin und retour. Wird häufig in Grönland gemacht.

Expedition
Ein Begriff, der allgemein für eine Reise verwendet wird, die Entdeckungs- oder Erforschungscharakter hat oder in entlegene oder unerschlossene Gebiete führt. Für Polarreisen auch ein allgemeiner Begriff für einen Weg, der weder Durchquerung (Crossing) noch Umrundung (Circumnavigation) oder Schleife (Loop) ist.

Return Expedition
Eine Hin- & Retour-Expedition zu einem signifikanten Ziel, die am gleichen Punkt startet und endet.

Alternate Return Expedition Startet und endet an verschiedenen Punkten, führt auf einer anderen Route zu einem signifikanten Ziel hin als zurück und beschreibt dabei einen Bogen von höchstens 90° (Abgrenzung zum Crossing).

Reverse Expedition
Eine umgekehrte Expedition startet an einem signifikanten üblichen Zielpunkt (zum Beispiel am Südpol) und endet an einem üblichen Startpunkt (zum Beispiel Küstenlinie).

Circumnavigation
Eine Umrundung ist eine Reise, die ein abgrenzbares geographisches Merkmal (zum Beispiel ein Gebirge) umkreist, mindestens 90 % seines Ausmaßes umfasst und Start und Ziel am gleichen Punkt hat.

Partial Circumnavigation
Eine Teilumrundung ist eine Reise, die ein abgrenzbares geographisches Merkmal umkreist und weniger als 90 % seines Ausmaßes umfasst oder Start und Ziel nicht am gleichen Punkt hat.

Inner Circumnavigation
Eine Binnenumrundung ist eine Reise, die ein abgrenzbares geographisches Merkmal (zum Beispiel einen gefrorenen See) entlang seines inneren Umfangs umkreist, mehr als 90 % des Ausmaßes des Merkmals umfasst und Start und Ziel am gleichen Punkt hat.

Partial Inner Circumnavigation
Eine Binnenteilumrundung ist eine Reise, die ein abgrenzbares geographisches Merkmal entlang seines inneren Umfangs umkreist und weniger als 90 % seines Ausmaßes des Merkmals umfasst oder Start und Ziel nicht am gleichen Punkt hat.

Loop (Full Loop)
Eine volle Schleife bzw. Runde ist ein Weg, der eine undefinierte Fläche umkreist und Start und Ziel am gleichen Punkt hat. Wird üblicherweise nur durch Snowkiter oder Wind-Craft Segler zurückgelegt.

Open Loop
Eine offene Schleife ist ein geschwungener Weg, der eine undefinierte Fläche teilweise umkreist oder dessen Start und Ziel an verschiedenen Punkten liegen.

Continous Journey
Eine durchgehende Reise ist nicht in mehrere räumlich-zeitliche Einzelabschnitte unterteilt.

Discontinous Journey
Eine nicht durchgehende Reise ist in mehrere räumlich-zeitliche Einzelabschnitte unterteilt.

Distances
Als Reisedistanzen werden üblicherweise die Tagesetappen zwischen den einzelnen Camps gemessen. Zusätzlich können detailliertere Wegpunktintervalle angegeben werden. Im Eismeer wird die Eisdrift durch die sich verändernden Camppositionen mitberücksichtigt.

Support/Aid (Unterstützung)

Eine Polarreise gilt als „unsupported“ (nicht unterstützt), wenn

  •  sie keine physische Hilfe oder Versorgung (Proviant, Brennstoff, Ausrüstung etc.) von außen oder anderen erhält („resupplied“).
  • vor der Reise oder von anderen keine Depots angelegt werden (während einer Reise selbst angelegte Depots gelten nicht als Unterstützung, sondern als „self supplied“).
  • kein Flugzeug oder motorisiertes Begleitfahrzeug verwendet wird, das physische oder psychische Unterstützung bietet.
  • kein Teammitglied evakuiert wird.
  • während der Reise keine Gebäude, Flugzeuge oder Fahrzeuge oder andere Zelte als die eigenen benützt werden.
  • keine Straßen, Pisten, Fahrzeugspuren oder markierte Routen verwendet werden, es sei denn angelegte Routen bei Stationen oder Lagern gemäß Anweisungen der Behörden (die Nutzung des gesamten Leverett-Gletschers mit der angelegten South Pole Traverse wird als Unterstützung eingestuft) und
  • nichts außer höchstens menschlichen Abfällen zurückgelassen wird.

Eine Reise gilt als „supported“, wenn sie einen der oben genannten Punkte nicht erfüllt oder nicht ausdrücklich als „unsupported“ bezeichnet wird. Die Verwendung von GPS-Daten oder Routentracks zur Orientierung ist heute üblich, wird jedoch als eine größere Form der Abhängigkeit angesehen als das Reisen ohne vorab bekannte GPS-Daten. Die Verwendung von Satellitentelefonen, Wetter- und Eisvorhersagen oder externen Standby-Beratern wird ebenso als Hilfsmittel akzeptiert und gilt nicht als Unterstützung. Da viele Polarexpeditionen heute ohne externe Kommunikationsmittel gar nicht mehr durchgeführt werden dürfen, sind größtmögliche Reduktion der Kommunikation nach außen und Eigenständigkeit grundlegende Qualitätsmerkmale hochwertiger Unternehmungen mit einem hohen Maß an – auch psychischer – Autarkie. Auch eine professionelle Führung wird nicht als Unterstützung eingestuft. Eine faire Beschreibung sollte jedoch den Hinweis enthalten, dass es sich um eine geführte Reise handelt. Sollte eine Vorab-Beschreibung einer Reise nach deren Durchführung nicht mehr zutreffen, sollte sie geändert werden, um die tatsächlich durchgeführte Reise darzustellen.

Labels

Ein Label ist eine Synthese qualifizierender Schlüsselbegriffe zur prägnanten Kurzbeschreibung von Polarreisen, wie zum Beispiel: „South Pole Ski Last Degree Expedition“, „Solo Full Ski Crossing of Antarctica“, „Alternate Return South Pole Snowkite Expedition“, „Inland Wind-Craft Crossing of Antarctica“, „Reverse South Pole Bicycle Expedition“, „Partial Ski Circumnavigation of Ellsworth Mountains“, „Solo Iceskate Inner Circumnavigation of Lake Baikal“, „Reverse Solo Unsupported South Pole Snowkite Expedition“, etc.

Verifizierung

Terminologie und Richtlinien von PECS können allgemein verwendet werden. Ansprüche und Daten müssen glaubhaft sein und überprüft werden können wie etwa durch GPS-Tracks, Wegpunktdaten, detaillierte Routeninformationen, Bilder etc.

Mehr über PECS, Definitionen und Karten für das Arktische Eismeer und Grönland siehe www.pec-s.com

Alle Daten wurden bestmöglich, aber ohne Gewähr auf Fehlerfreiheit recherchiert.

Start- und Endpunkte sowie Wege in der Antarktis. Grafik: Philips/Höbenreich 2020
Umrundungs- und Schleifen-Varianten. Grafik: Philips/Höbenreich 2020
Erstbegehung neuer Routen in der Antarktis (unmotorisiert). Grafik: Philips/Höbenreich 2020
Die längsten Eisreisen in der Antarktis, Nördlichem Eismeer und Grönland (unmotorisiert). Grafik: Philips/Höbenreich/Charavin/Jones 2020
Team-Durchquerungen in der Antarktis (unmotorisiert). Grafik: Philips/Höbenreich 2020
Solo-Durchquerungen in der Antarktis (unmotorisiert). Grafik: Philips/Höbenreich 2020
Return and Alternate Return Südpol Expeditionen (unmotorisiert), July 4, 2020

International Polar Guides Association (IPGA)

Da es keine Berufsregelungen für Polarführer gibt, wurde im Jahr 2010 in Svalbard die International Polar Guides Association (IPGA) mit Sitz in Kanada und Präsident Eric Philips aus Australien gegründet. Heute vereinigt sie 32 der Island, Kanada, Norwegen, Österreich, Russland, Schweiz, Spanien und USA. Das Ziel der weltweiten Organisation ist es, die Öffentlichkeit über die erforderliche Qualifikation von Führungskräften für polare Eisreisen zu informieren und hochqualifizierte Polarführer durch einen standardisierten Anerkennungserfahrensten Polarführer aus Australien, Belgien, Frankreich, Großbritannien, -Prozess, der Ausbildungen sowie Führungs- und Expeditionserfahrung berücksichtigt, auszuweisen, um ein Höchstmaß an Sicherheit und Professionalität für die Kunden sicherzustellen. Und den Profis bietet das Netzwerk eine Plattform und gegenseitige Unterstützung. Denn die Welt für Polarfahrer ist riesig, doch die Welt der Polarfahrer ist klein. www.polarguides.org

Dr. Christoph Höbenreich, Innsbruck, IPGA Master Polar Guide, UIAGM Berg- und Skiführer, Vorstandsmitglied der International Polar Guides Association, Berg- und Skisportsachverständiger des Landes Tirol, 14 Antarktisexpeditionen. (Foto: Sepp Friedhuber)
Eric Philips, B.Ed, Hobart, IPGA Master Polar Guide, Präsident der International Polar Guides Association, Medal of the Order of Australia, PECS Initiator und Mastermind, Inhaber von Icetrek Expeditions, 15 Antarktisexpeditionen. (Foto: Martin Hartley)

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