Walrosse sind neben Eisbären die Ikonen der Arktis. Die grösste arktische Robbenart gehört dank ihrer Grösse, ihrem urtümlichen Aussehen und ihrer scheinbar relaxten Lebensart zu den Highlights für alle Arktisreisenden. Innerhalb der Robben nimmt das Walross eine Sonderstellung zwischen den Ohren- und den Hundsrobben ein und es existiert offiziell auch nur eine Art. Doch Forscher haben anhand von Fossilfunden entdeckt, dass die Vielfalt der Walross-Urahnen vor Jahrmillionen viel grösser war und sie sogar an den Stränden von Kalifornien zuhause gewesen sein müssen.
Gleich drei neue Arten hat eine Forschungsgruppe um Studienleiter und Geologieprofessor James Parham von der Cal State Universität Fullerton im kalifornischen Orange County entdeckt. In ihrer Arbeit, die in der Fachzeitschrift Journal of Vertebrate Paleontology erschienen ist, haben Erstautor Geologiestudent Jacob Biewer und seine Kollegen fossile Schädelüberreste von zwölf Vertretern von Walrossurahnen untersucht. Dabei kamen sie zum überraschenden Schluss, dass darunter drei neue Arten waren, die bisher der Wissenschaft unbekannt waren. Eine weitere Überraschung: die Fossilien beinhalteten sowohl männliche wie auch weibliche und junge Tiere. «Orange County ist das wichtigste Gebiet für Walrossfossilien weltweit», erklärt Jacob Biewer. Die Fossilien, die von den Forschern untersucht wurden, stammten zum grössten Teil aus der Sammlung des Naturhistorischen Museums von Los Angeles County.
Die Untersuchungen zeigten, dass die Tiere vor rund 5 – 10 Millionen Jahre gelebt hatten, jedoch nicht alle gleichzeitig. Auch der Verwandschaftsgrad der Arten ist unterschiedlich: Während Pontolis kohoni wahrscheinlich aus seine Vorläufer Pontolis barroni entstammte, steht die Art Osodobenus eodon etwas abseits in der Entwicklung. Die Evolution der Walrosse, die in die heute einzige Art Odobenus rosmarus mündete, ist nur sehr lückenhaft. Besonders die markanten Stosszähne der Tiere sollen helfen, mehr Licht in die Entwicklung zu bringen. Und dabei sind die von Biewer und seinen Kollegen entdeckten Fossilien sehr hilfreich. Denn nur die neuentdeckte Art Osodobenus eodon weist so etwas wie verlängerte Zähne überhaupt auf. Die restlichen Arten hatten das übliche Raubtiergebiss. «Diese Forschungsarbeit betont auch, wie die Stosszähne lediglich ein späterer Zusatz in der Entwicklung der Walrosse war», sagt Biewer. Ausserdem fanden die Forscher eine grosse Variabilität in ihren Gebissen. «Wissenschaftler dachten, dass man jede Art (Walrosse) nur basierend auf ihren Zähnen identifizieren könnte. Doch wir zeigen, wie sogar Individuen innerhalb der eigenen Art eine Variabilität in ihrem Zahnaufbau aufwiesen», erklärt Jacob Biewer.
Die Entwicklung der markanten Stosszähne ist nach Meinung der Forscher erst später eingetreten. Denn die gefundenen Fossilien zeigen nur bei Osodobenus eodon eine Verlängerung der Eckzähne. «Osodobenus eodon ist das ursprünglichste Walross mit stosszahnartigen Zähnen», erklärt Studienleiter James Parham. Die Unterschiede bei dieser Art zu den übrigen Arten waren so gross, dass die Forscher sogar eine eigene Gattung entwickelten. «Diese neue Art zeigt die wichtige Rolle der Ernährungsökologie bei der Abstammung und der Entwicklung von Stosszähnen.» Die Forscher gehen davon aus, dass die frühen Walross-Verwandten nicht dieselbe Ernährungsweise wie die heute lebenden Tiere hatten. «Die meisten Walrossarten waren wohl Fischfresser und daran angepasst, eher Fische zu jagen, als die Nahrungsaufnahme durch Ansaugen von Mollusken wie die modernen Walrosse», erklärt Biewer. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass sich die Walrossgruppe zuerst nur langsam entwickelt hatte. Erst vor rund 7 Millionen Jahren begann die Evolution der Stosszähne, bei der Osodobenus eodon eine wichtige Rolle gespielt hatte.
Doch es stellt sich immer noch die Frage, warum eine Region wie Kalifornien für die Evolution von Walrossen derart wichtig war. Wahrscheinlich, so spekulieren die Forscher in ihrer Arbeit, habe eine Erhöhung der Wassertemperaturen vor der Küste das Nahrungsangebot und die Vielfalt vergrössert. Besonders einfach zu fangende bodenbewohnende Tiere, die als Filtrierer lebten und durch das wärmere Wasser zu mehr Plankton fanden, könnten zahlreicher aufgetreten sein und somit für die Walrossvorfahren eine einfachere Nahrungsquelle geworden sein. Damit könnte der Startschuss für die bodensaugende Ernährung und die Funktionsänderung der Eckzähne erfolgt sein.
Heutzutage aber sind die Walrosse durch die steigenden Wassertemperaturen in der Arktis bedroht, da ihre Grundlage, das Meereis, rasant verschwindet und die Tiere aus ihrem Lebensraum drängt. Und wie die Evolution der Walrosse gezeigt hat, reagieren sie nur behäbig auf Veränderungen. Und diese kommen jetzt sehr schnell in ihren Lebensraum, vielleicht zu schnell für diese arktischen Riesen.
Dr. Michael Wenger, PolarJournal