Bewegung im Norden – Arktische Grenzen in einer sich ändernden Welt | Polarjournal
Ankunft in Tromsö, «Hauptstadt der Arktis». (Foto: I. Quaile)

Die Arktis steht vor grossen Veränderungen, sei es auf klimatischer, geopolitischer oder gesellschaftlicher Ebene. Um diesen Herausforderungen wirksam entgegentreten zu können, ist es wichtig den Dialog zwischen allen arktischen Interessenvertreter aufrecht zu halten. Doch wie soll das gehen, wenn einer der wichtigsten Akteure fehlt? Es geht, wie Dr. Irene Quaile-Kersken am diesjährigen «Arctic Frontiers»-Treffen selbst erlebt. Der Norden bewegt sich und man bewegt sich in Richtung Norden.

Tromsø macht seinem Image als Norwegens arktische Hauptstadt alle Ehre, als ich aus dem Flugzeug steige und in ein Schneegestöber und eine weiße Landschaft eintauche. Erstmals kam ich 2007 zum Arctic Frontiers-Treffen hierher, um zu recherchieren und Kontakte für eine Reihe von Dokumentarfilmen zu knüpfen, die das Internationale Polarjahr begehen und das öffentliche Interesse an den Polarregionen wecken sollten. Die Welt – und insbesondere die Arktis – haben sich in den 16 Jahren dazwischen dramatisch verändert, und das Tempo dieses Wandels beschleunigt sich. Der Schatten der russischen Invasion in der Ukraine liegt schwer auf dem diesjährigen Treffen, und es besteht die weit verbreitete Sorge, dass dies die Aufmerksamkeit und die Ressourcen von der Bekämpfung der Klimaerwärmung ablenkt, die bereits jetzt lebensverändernde Auswirkungen auf diese Region und den Rest der Welt hat.

Es ist inzwischen bekannt, dass sich die Arktis etwa viermal so schnell erwärmt wie der Rest des Planeten.

Die Meereisbedingungen haben sich dramatisch verändert. Die Küstenerosion und das Auftauen des Permafrosts zwingen ganze Gemeinschaften zur Umsiedlung. Tier- und Pflanzenarten verschieben sich. Der Klimawandel hat sich von einem Randthema zu einem übergeordneten Thema entwickelt. Die Arktis spielt eine Schlüsselrolle, und was hier geschieht, hat enorme Auswirkungen auf das Klima in weit entfernten Teilen der Erde.

Die Corona-Pandemie hat uns allen vor Augen geführt, wie vernetzt unsere Welt ist, welche Gefahren lauern, die unsere Gesellschaften unerwartet zum Erliegen bringen und die Grundlagen von so vielem, was wir für selbstverständlich halten, ins Wanken bringen können. Sie hat uns vor allem die Risiken vor Augen geführt, die entstehen, wenn wir immer weiter in das Territorium der Natur eindringen.

Tromsø im Januar (Foto: I. Quaile)

Die Ukraine und die Arktis

Die russische Invasion in der Ukraine hat die Welt zu einem weit weniger sicheren Ort gemacht, der die Angst vor einem Atomkonflikt aus dem Kalten Krieg wieder aufleben lässt und eine Energiekrise auslöst, die unseren Lebensstil und unser Wohlergehen bedroht. Auf Russland entfallen rund 53 Prozent der arktischen Küstenlinie und etwa die Hälfte der Bevölkerung der Region. Der Allianz zur Unterstützung der Ukraine gehören die skandinavischen Länder an, die in diesem Gebiet liegen – und natürlich Kanada und die USA. Die Arbeit des Arktischen Rates wurde unterbrochen, die Zusammenarbeit mit Russland liegt auf Eis. Eine Organisation, die so lange daran gearbeitet hat, eine Garantie für friedliche Zusammenarbeit und geringe militärische Spannungen in diesem sensiblen und fragilen Umfeld zu sein, ist gezwungen, sich neu zu formieren und ohne ein Schlüsselmitglied zu arbeiten, das derzeit den Vorsitz der Organisation innehält.

Die arktische Region spielt eine Schlüsselrolle in der Energie- und Klimakrise. Traditionell lag der Schwerpunkt auf fossilen Brennstoffen, reichen Öl- und Gasvorkommen. Bei meinem ersten Besuch hier bei Arctic Frontiers im Jahr 2007 erinnere ich mich, wie der Beitrag eines Zuhörers, der auf den Widerspruch zwischen Ölbohrungen und der Eindämmung der globalen Erwärmung hinwies, für Aufsehen sorgte – in einem Land, dessen Reichtum auf fossilen Brennstoffen beruht. Heute stehen diese Themen hier und weltweit ganz oben auf der Tagesordnung. Die Energiewende ist im Gange, hält aber noch nicht mit der Geschwindigkeit des Klimawandels Schritt.

Für die indigenen Völker, die hier oben leben, bringt die Energiewende ihre eigenen Herausforderungen mit sich. Das Vorhandensein von Seltenen Erden, die wir für unsere Energiewende, für Windturbinen, Batterien für Elektroautos usw. benötigen, hat zu Konflikten zwischen der traditionellen Landnutzung und dem Interesse am Abbau neuer Ressourcen geführt. Streitigkeiten über Rentierweiden sind nur ein Beispiel dafür. Vor dem Hintergrund der Umweltzerstörung, der Klimaerwärmung und der mangelnden Gerechtigkeit in unseren Gesellschaften ist die nachhaltige Entwicklung eine größere Herausforderung denn je.

Norwegen: In der Kälte Energie tanken (Foto: I Quaile)

Der Norden in Bewegung

In einer ersten Sitzung mit dem Titel „Der Norden in Bewegung“ zogen die Außenminister Norwegens, Schwedens und Islands, hochrangige Persönlichkeiten aus Finnland und den USA sowie der Präsident des samischen Parlaments eine Bilanz der aktuellen Situation. Die übergreifende Botschaft war klar. Russlands Einmarsch in der Ukraine wurde in aller Deutlichkeit verurteilt – und hat sich auf die gesamte arktische Ordnung und Zusammenarbeit ausgewirkt. Dringend benötigte wissenschaftliche Daten werden nicht zur Verfügung gestellt. Die Kontakte zwischen indigenen Völkern in Russland und den anderen arktischen Regionen können nicht mehr wie früher funktionieren. Die Geschäftsführerin von Arctic Frontiers, Anu Fredrickson, verwendete die Metapher der Scheidung. Russland hat sich von seinen europäischen Nachbarn isoliert, und die Versuche, militärische Spannungen aus der Arktis herauszuhalten, wurden vereitelt.

Bei dem Begriff „Arctic Frontiers“, in Deutsch: Arktische Grenzen, denkt man in der aktuellen Situation zuerst an Differenzen, Trennung, Meinungsverschiedenheiten, ja sogar an Konflikte. Aber es wird hier auch gezeigt, dass es so viel gibt, was die Völker der Arktis, dieses einzigartigen Teils des Planeten, verbindet: die Landschaft, die Kälte, die Umwelt, abgelegene Gemeinden, der Lebensstil, der mit all dem einhergeht – , Arten, die keine Rücksicht auf von Menschen geschaffene Grenzen nehmen, – dass selbst dieser große Streit zwischen Russland und seinen nördlichen Nachbarn die Zusammenarbeit und das Streben nach friedlicher Koexistenz nicht aufhalten kann, während die Menschen des hohen Nordens daran arbeiten, sich an ein sich veränderndes Klima anzupassen und die Herausforderungen zu bewältigen, denen sich die Arktis und der Rest des Globus gegenübersehen.

Norwegens Aussenministerin Anniken Huitfeld (Foto: I Quaile)

Aufstrebende Führungskräfte mit längerfristiger Perspektive

Bei einer Diskussionsrunde zum Thema «Arktische Risiken in turbulenten Zeiten“ gestern Abend sagte ein Vertreter des Arctic Frontiers Emerging Leaders Programms, dass diese Gruppe von 33 jungen Fachleuten über viele Themen besorgt sei. Der Klimawandel und der Verlust der biologischen Vielfalt in der Arktis standen ganz oben auf der Liste. Die Forschung zur Emissionsreduzierung sei zwar von entscheidender Bedeutung, könne aber nicht die ökologischen und sozialen Probleme lösen, die bereits durch den Klimawandel verursacht werden, sagten sie. Sie wünschten sich einen ganzheitlicheren Ansatz und eine sektorübergreifende Zusammenarbeit bei der Anpassung an den Wandel. Der „Elefant oder Bär im Raum“, die russische Invasion in der Ukraine, könnte den grünen Übergang verzögern, befürchten die jungen Fachleute. Sie hat auch vielversprechende Kontakte zwischen Forschern, Innovatoren, Studenten und Lehrkräften in Russland und im Westen zum Erliegen gebracht. Die Suche nach Wegen, die sicherstellen, dass die zwischenmenschlichen und grenzüberschreitenden Verbindungen aufrechterhalten werden, muss nach Ansicht der Emerging Leaders Priorität haben. Und wir müssen immer daran denken, dass dieser Krieg zu Ende gehen wird – und wir müssen Wege finden, wie wir danach mit den Russen leben und Handel treiben können, sagen sie.

Das Treffen findet diese Woche hier statt – leider ohne viele der russischen Wissenschaftler, Experten und jungen Leute, die unter anderen Umständen hier gewesen wären. Arctic Frontiers ist, wie Außenministerin Anniken Huitfeld betonte, wichtiger denn je, um Menschen zusammenzubringen, um in dieser Zeit zahlreicher Krisen etwas zu bewegen.

Link zum Blog von Dr. Irene Quaile-Kersken:

Aktueller Blog: https://iceblog.org

Älterer Blog: https://blogs.dw.com/ice/ 

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