Grönländisches KI-Übersetzungstool inspiriert kleine Sprachen weltweit | Polarjournal
Die Titelseiten von Sermitsiaq erscheinen immer zweisprachig. Seit 1958 werden alle Artikel sowohl in Dänisch als auch in Kalaallisut (Grönländisch) veröffentlicht. Damit verfügt die Zeitung über ein umfangreiches Archiv, das als Datengrundlage für das Training einer KI verwendet wurde. Foto: Sermitsiaq auf Facebook
Die Titelseiten von Sermitsiaq erscheinen immer zweisprachig. Seit 1958 werden alle Artikel sowohl in Dänisch als auch in Kalaallisut (Grönländisch) veröffentlicht. Damit verfügt die Zeitung über ein umfangreiches Archiv, das als Datengrundlage für das Training einer KI verwendet wurde. Foto: Sermitsiaq auf Facebook

Das französische Staatsfernsehen gehört zu den potenziellen Nutzern eines KI-Tools, das für die grönländische Zeitung Sermitsiaq entwickelt wurde.

Letztes Jahr kontaktierte das dänische Start-up-Unternehmen Media Catch die größte grönländische Zeitung Sermitsiaq mit einem Geschäftsvorschlag. Sie wollten etwas erreichen, was noch niemand zuvor geschafft hatte: ein KI-Tool entwickeln, das die Artikel der Zeitung automatisch aus dem Dänischen ins Grönländische übersetzen würde.

Masaana Egede, CEO und Chefredakteur von Sermitsiaq, war jedoch skeptisch.

„Wie viele andere Grönländer war auch ich davon überzeugt, dass Grönländisch eine der schwierigsten Sprachen der Welt ist und dass ein Computer sie niemals lernen könnte. Im Laufe der Jahre haben das viele Expertinnen und Experte geäussert. Aber sie haben uns trotzdem überredet, es zu versuchen“, erklärt Masaana Egede gegenüber Polar Journal AG.

Heute ist Masaana Egede mit dieser Entscheidung zufrieden. Denn Media Catch war nicht nur in der Lage, ein funktionierendes KI-Übersetzungswerkzeug zu entwickeln, sondern sein Tool funktionierte auch so gut, dass es nun andere kleine Sprachen auf der ganzen Welt inspiriert.

Sogar so gut, dass sie laut Masaana Egede, schnell „viel, viel Geld“ hätten verdienen können, wenn Sermitsiaq ein gewinnorientiertes Unternehmen wäre.

Masaana Egede ist seit Juni 2023 CEO und Chefredakteur von Sermitsiaq. Es dauerte nicht lange, bis er zustimmte, die Entwicklung einer KI zuzulassen, die auf Sermitsiaqs Artikelarchiv basiert. Foto: Aros Business Academy
Masaana Egede ist seit Juni 2023 CEO und Chefredakteur von Sermitsiaq. Es dauerte nicht lange, bis er zustimmte, die Entwicklung einer KI zuzulassen, die auf Sermitsiaqs Artikelarchiv basiert. Foto: Aros Business Academy

Alle Übersetzer sind noch da

Grönland ist eine zweisprachige Gesellschaft. Laut Gesetz müssen alle Regierungstexte sowohl in Dänisch als auch in Kalaallisut (Grönländisch) veröffentlicht werden. Daher gibt das kleine arktische Land jedes Jahr ein Vermögen für Übersetzungen aus. Ein vollautomatisches Übersetzungstool wäre somit ein lukratives Geschäft.

Auch bei Sermitsiaq ist alles zweisprachig. Seit 1958 veröffentlicht die Zeitung alle ihre Artikel in beiden Sprachen. Heutzutage wird ein Artikel in der Regel zuerst auf Dänisch geschrieben, bevor er ein paar Stunden später auf Grönländisch übersetzt und veröffentlicht wird.

Um diese Übersetzungen anzufertigen, beschäftigt Sermitsiaq vier Vollzeit-Übersetzinnen und Übersetzer. Diese Übersetzer, die alle noch angestellt sind, wurden nun freigestellt, um andere Aufgaben bei der Zeitung zu übernehmen.

„Es ist ein Irrglaube, dass die Übersetzerinnen und Übersetzer ihre Arbeit verlieren werden. Das glaube ich nicht. Ich denke, dass das Tool für sie und auch für andere zweisprachige Bürgerinnen und Bürger Grönlands eine Hilfe sein wird“, versichert Masaana Egede.

„Der Arbeitsablauf unseres Übersetzungsteam wird sich ändern. Anstatt Wort für Wort zu übersetzen, erhalten sie jetzt eine Rohübersetzung, die sie auf Fehler überprüfen werden. Das spart ihnen einige Zeit“, erklärt er.

Er weist darauf hin, dass die Eigentümerstruktur von Sermitsiaq die eines gemeinnützigen Fonds ist. Aus diesem Grund ist das neue Tool mit dem Namen Nutserisoq nicht als Einzelkauf-Tool erhältlich. Stattdessen steht es nur Abonnentinnen und Abonennten von Sermitsiaq zur Verfügung. Damit wird sichergestellt, dass die Gewinne aus dem neuen Tool das Ziel von Sermitsiaq unterstützen, qualitativ hochwertigen Journalismus in Grönland zu sichern.

Dieses Übersetzungs-Add-on hat dazu beigetragen, dass sich die Zahl der digitalen Abonnenten von Sermitsiaq seit seiner Einführung mehr als verdoppelt hat.

In einer Blindstudie testete Sermitsiaq die Qualität seines neuen Tools Nutserisoq im Vergleich zu ChatGPT und Nutserut, einem anderen Übersetzungsprogramm ohne KI. Der Test umfasste 50 zufällig ausgewählte Sätze und wurde von professionellen Übersetzern bewertet. Wie aus der Grafik ersichtlich, hat Nutserisoq viel besser abgeschnitten als seine Konkurrenten. Foto: Nutserisoq.gl
In einer Blindstudie testete Sermitsiaq die Qualität ihres neuen Tools im Vergleich zu GPT-4, der Software hinter der neuesten Version von ChatGPT, und Nutserut, einem grönländischen Übersetzungstool ohne KI. Der Test umfasste 50 zufällig ausgewählte Sätze und wurde von professionellen Übersetzern bewertet. Wie aus der Grafik ersichtlich, hat Nutserisoq viel besser abgeschnitten als seine Konkurrenten. Foto: Nutserisoq.gl

Archiv mit hochwertigen Artikeln genutzt

Aber wie kommt es dann, dass ein kleines dänisches Start-up-Unternehmen dort Erfolg hatte, wo große Tech-Unternehmen wie Google und Open AI gescheitert waren?

Zunächst einmal, so Masaana Egede, ist der grönländische Markt mit nur rund 57’000 Einwohnern zu klein, als dass große Technologieunternehmen dort investieren könnten. Die potenziellen Gewinne sind einfach nicht vorhanden.

Aber zweitens, und das ist noch interessanter, konnte Media Catch mit Daten von viel höherer Qualität arbeiten. Anstatt das Internet nach Daten unterschiedlicher Qualität zu durchforsten, nutzte das neue KI-Modell das gesamte Archiv von Sermitsiaq mit 23.000 Artikeln aus den letzten 20 Jahren.

Alle diese Artikel lagen sowohl auf Dänisch als auch auf Grönländisch vor. Da es so viele qualitativ hochwertige Übersetzungen gab, konnte Media Catch ein funktionierendes Tool mit viel weniger Daten erstellen als große Sprachmodelle wie ChatGPT.

„Das erste Modell, das ich gesehen habe, war ziemlich schlecht, und ich dachte, es würde scheitern, wie es schon einmal gescheitert ist“, sagt Masaana Egede.

„Aber bei der zweiten Version dachte ich: ‚Okay, das könnte mir vielleicht ein wenig helfen‘. Und als ich die dritte sah, verschluckte ich mich an meinem Kaffee und dachte: ‚Wow, es ist verrückt, dass das möglich ist'“, erinnert er sich.

Ein kurzes Video, das die Einfachheit des Übersetzungsprogramms zeigt.

Inspiriertes französisches Fernsehen

Masaana Egede ist nicht der einzige, der von dem neuen Übersetzungstool beeindruckt ist. Die Tatsache, dass begrenzte, aber qualitativ hochwertige Daten einer Nachrichtenagentur zur Erstellung eines Übersetzungstools verwendet werden können, bedeutet, dass dies auch für andere kleine Sprachen auf der ganzen Welt nützlich sein könnte.

„Unser Erfolg deutet darauf hin, dass es auch anderswo funktionieren könnte. Es gibt viele Sprachen auf der Welt, die, wie Grönländisch, von Big Tech nicht prioritär behandelt werden. Sie brauchen nur einen Datensatz wie den unseren“, meint er.

Und laut Masaana Egede haben viele Menschen Interesse an dem neuen Tool gezeigt. Anfang April beispielsweise präsentierte Masaana Egede seine Ergebnisse auf dem Nordic AI in Media Summit in Kopenhagen.

Sein Vortrag wurde mit stehenden Ovationen bedacht, und anschließend nahm ein Vertreter des französischen Fernsehens Kontakt mit ihm auf. Er wollte wissen, ob dasselbe Tool auch für die Übersetzung einiger französischer Regional- und Überseesprachen wie Bretonisch, Elsässisch und Tahitan verwendet werden kann. Masaana Egede vermittelte ihm den Kontakt zu Media Catch, damit sie prüfen konnten, ob eine ähnliche Lösung auch in Frankreich möglich ist.

„Die Leute, die mich anrufen und mir schreiben, sind sehr an diesem Tool interessiert. Ich denke, ein Grund dafür, dass so viele Menschen daran interessiert sind, ist, dass es ein relativ einfaches Tool ist“, sagte Masaana Egede.

„Einige KI-Tools sind so kompliziert, dass nur einige wenige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der IT-Abteilung damit umgehen können. Doch dieses Tool hat sich nicht nur in unserem Unternehmen, sondern auch in anderen Unternehmen in Grönland als nützlich erwiesen“, erklärt er.

Ole Ellekrog, Polar Journal AG

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