UPDATE: Von Professor Olaf Eisen, Glaziologe am deutschen Alfred-Wegener-Institut (AWI), erhielten wir spannende Hintergrundinformationen zur Kaiserpinguin-Kolonie in der Atkabucht. Er erzählte uns in einem Telefonat, dass die Eisdicke des Ekström-Eisschelfs aufgrund einer recht starken Schmelze an seiner Unterseite schnell abnimmt. Die Höhe der Schelfeiskante über dem Meereis, die sogenannte Freibordhöhe, ist deshalb in den letzten Jahren sehr gering geworden und auch weil an dieser Stelle schon seit längerer Zeit kein Eisberg mehr abgebrochen ist. Pro Jahr verliert das Eisschelf auf diese Weise zwei bis drei Meter an Mächtigkeit und die Kante des Eisschelfs wird immer niedriger.
«Deswegen ist an der Stelle auch gerade im letzten Jahr, als wir sehr viel mehr Schneezutrag hatten als in den Jahren zuvor, quasi eine Rampe entstanden, eine sehr flache Rampe, vom Meereis auf das Schelf. Und dann ist es für die Pinguine überhaupt kein Problem auf das Schelf zu gehen», erklärt uns Olaf Eisen. «Und je nachdem wann sie anfangen ihre Kolonie zu gründen, sind sie dann auf dem Schelf. Das macht für sie keinen großen Unterschied, ob sie oben sind oder unten, wenn ohnehin alles weiß und flach ist.»
Das Schelfeis wird wohl erst dann für die Pinguine nicht mehr so einfach zu erreichen sein, wenn an der Ostseite des Ekström-Eisschelfs irgendwann wieder ein Eisberg abbricht und die Kante an der Stelle wieder höher wird.
Der größte Teil der Kolonie, die in diesem Jahr Olaf Eisen zufolge um die 15.000 Paare umfasste, brütete allerdings wie gewöhnlich auf dem Meereis. Nur eine kleine Subkolonie entschied sich für das Schelfeis als Brutplatz. Die Kolonie brütet immer im südwestlichen Bereich der Atkabucht, wo verschiedene Riftsysteme — Risse im Schelf — eine Hügellandschaft geschaffen haben, wo es einfach ist, vom Schelfeis auf das Meereis zu kommen und wieder hoch.
Am Nordhimmel sind oft niedrige Wolken, die sehr dunkel erscheinen, wenn das Wasser offen ist, beschreibt er weiter. Wenn die Küken sich daran orientieren auf ihrem Weg in Richtung Ozean, «dann landen einige am Ende des Ekströmisen [norwegisch für Ekström-Eisschelf, Anm. d. Red.] und andere auf dem Meereis. Und vorn [an der Kante, Anm. d. Red.] — sie waren da ja noch nie — den Schluss zu ziehen: ‘Wir gehen fünf Kilometer zurück und nehmen die Kurve’, das machen sie halt nicht.»
Ein Sprung ins Wasser aus dieser Höhe macht den Küken wenig aus, weil sie durch ihr noch zum Teil vorhandenes Baby-Gefieder gut gepolstert und ihre Knochen noch weich sind. «Auf dem Eis purzeln sie auch gelegentlich die Berge hinunter. Darauf sind sie genetisch vorbereitet.»
Olaf Eisen wirkte im Jahr 2022 am Langzeitprojekt «Monitor the health of the Antarctic marine ecosystems using the Emperor penguin as a sentinel» (MARE, Überwachung der Gesundheit der antarktischen Meeresökosysteme mit dem Kaiserpinguin als Indikator) mit, das von Céline Le Bohec vom französischen Centre national de la recherche scientifique (CNRS) geleitet wurde und an dem auch die Universität Erlangen beteiligt war. Das Forschungsteam untersuchte damals unter anderem den Mageninhalt von Küken auf Mikroplastik.
Dem Dokumentarfilmer Bertie Gregory gelang es erstmals, die kühnen Sprünge von Kaiserpinguin-Küken von hohen Eisklippen in einzigartigen Drohnenaufnahmen für National Geographic festzuhalten.
Wer schon einmal im Schwimmbad auf dem 10-Meter-Brett gestanden hat, kann in etwa nachempfinden, wie sich Kaiserpinguin-Küken auf einer etwa 15 Meter hohen Schelfeiskante fühlen müssen, die es zu überwinden gilt. Normalerweise brüten Kaiserpinguine auf dem Festeis — Meereis, das mit dem Schelfeis verbunden ist — und von dort ist ein Sprung ins Wasser für die Küken nicht mehr als ein kleiner Hüpfer.
Was jedoch Dokumentarfilmer Bertie Gregory für National Geographic Anfang Januar während seiner Aufnahmen für die neue Dokumentation Secrets of the Penguins in der Atkabucht nahe der deutschen Neumayer-Station beobachtet und mit einer Drohne gefilmt hat, ist kaum zu glauben. Etwa 700 Pinguinküken, die über ihrem neuen Erwachsenengefieder noch den letzten Baby-Flaum tragen, marschieren entlang der Schelfeiskante, stoppen an einer Stelle und blicken noch unentschlossen in die Tiefe. Springen müssen sie, wenn sie schwimmen lernen und Nahrung finden wollen. Doch wer wagt den Sprung als erster?
«Ehrlich gesagt war ich voller Ehrfurcht und konnte nicht glauben, dass sie [National Geographic, Anm. d. Redaktion] diese Aufnahmen gemacht haben. Unglaublich. Ich hätte vermutet, dass die Küken keine andere Wahl hatten, als zu springen, aber ich bin erstaunt, dass sie in der Lage waren, das zu filmen, denn einen so großen Sprung zu wagen, muss man sich schon gut überlegen», erzählt uns Michelle LaRue, außerordentliche Professorin an der University of Canterbury in Neuseeland, in einer Email.
Es ist nicht das erste Mal, dass Kaiserpinguin-Küken von einer hohen Eisklippe springen, aber das erste Mal, dass dieses außergewöhnliche Verhalten gefilmt werden konnte. Vor über 30 Jahren hat Gerald Kooyman, emeritierter Professor für Biologie und Physiologe an der Scripps Institution of Oceanagrophy in San Diego, der mehr als 50 Jahre lang Kaiserpinguine in der Antarktis erforscht hat, ein ähnliches Ereignis beobachtet, wie er in seinem Buch Journeys with Emperors beschreibt.
In jüngerer Vergangenheit konnten auf Satellitenbildern dieser Schelfeiskante gelegentlich Spuren von Pinguinen beobachtet werden, die in Richtung Norden führen, erklärt Peter Fretwell, Wissenschaftler am British Antarctic Survey, gegenüber National Geographic.
Doch wie sind die Küken überhaupt auf diese hohe Schelfeiskante gekommen? Die Eltern der Küken haben bei ihrer Rückkehr zur Kolonie zu Beginn der Brutsaison offenbar eine flache Stelle entlang der Schelfeiskante genutzt, um auf das Eisschelf zu gelangen. Für die fünf bis sechs Monate alten Küken war dieser Weg scheinbar keine Option.
Michelle LaRue erklärt es Polar Journal gegenüber so: «Ich denke, dass diese Küken von ihrer Kolonie, die sich oben auf dem Schelfeis und nicht auf dem Meereis befand, nach Norden aufgebrochen sind. Ich vermute, dass sich diese Eisklippe direkt nördlich von ihnen befindet… und ich denke, die Küken haben einfach mehr bekommen, als sie erwartet haben, als sie an den Rand [des Eisschelfs, Anm. d. Red.] kamen. Aber bedenken Sie, dass sie zum ersten Mal das Meer gesehen haben, also ist es nicht so, dass sie eine Vorstellung davon hatten, wie ein Sprung ins Wasser sein ‘sollte’, so wie es erwachsene Kaiserpinguine vielleicht ‚besser wissen’.»
Auf die Frage, ob dieses außergewöhnliche Verhalten der Küken mit der Festeisbedeckung in Zusammenhang steht, schreibt sie uns: «Nein, ich glaube nicht, dass es etwas mit dem Meereis zu tun hat. Die Küken in diesem Fall (wenn es stimmt, dass sie auf dem Schelfeis und nicht auf dem Meereis geboren und aufgewachsen sind) wussten wahrscheinlich gar nichts von der Existenz des Meereises, ehrlich gesagt. […] Wenn es stimmt, dass in dem Gebiet weniger Eis vorhanden war, als die Vögel flügge wurden… in diesem speziellen Fall jedenfalls… dann war das wahrscheinlich zu ihrem Vorteil, denn es bedeutete, dass sie von der Klippe ins Meer springen konnten, anstatt auf dem Eis zu landen. Wäre unterhalb der Klippe Eis gewesen, kann ich mir nicht vorstellen, dass das für die Küken gut ausgegangen wäre. Sie hätten zwei Möglichkeiten gehabt: einen anderen Weg zum Meer zu finden, was eine ganze Weile gedauert hätte, wenn sie ihn überhaupt hätten finden können, oder zu springen und auf dem Eis zu landen. Keines dieser Szenarien wäre gut gewesen.»
In Zukunft könnten mit dem Rückgang des Meereises immer mehr Kaiserpinguine dazu gezwungen sein, auf dem Schelfeis zu brüten, befürchtet Peter Fretwell. «Es hängt wirklich von uns ab», sagte er gegenüber Polar Journal in einem früheren Interview über Kaiserpinguine, und meint damit unseren Willen, die Treibhausgasemissionen zu reduzieren.
Julia Hager, Polar Journal AG